21. Jahrgang | Nummer 20 | 24. September 2018

Kampfbegriff Populismus

von Mirko Petersen

Nur wenige in Politik und Wissenschaft bezweifeln heutzutage noch, dass die Gesellschaften in Europa vor fundamentalen Veränderungen stehen. Der Historiker Norbert Frei diagnostiziert: „Die liberale Demokratie steht unter Druck wie seit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nicht mehr.“1 Aufgrund der Schwäche linker Parteien und Bewegungen gelingt es vor allem rechten politischen Kräften, aus den zunehmenden sozialen Spannungen Kapital zu schlagen.
Als einer der Schlüsselbegriffe der politischen Debatten hat sich der Ausdruck „Populismus“ herauskristallisiert. Der Begriff ist bei der Analyse der politischen Verschiebungen in Europa und – durch die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten – auch in den Vereinigten Staaten omnipräsent. Lange Zeit wurde der Begriff in wissenschaftlichen und politischen Debatten vor allem in Bezug auf Lateinamerika verwendet.2 Erst spät fand er Einzug in die europäischen Diskussionen. Von einem Randphänomen ist er inzwischen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
Im deutschen politischen Kontext scheinen die Protagonisten der neuen linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“, deren Gründungsakt am 4. September stattfand, die Bedeutung des Begriffes erfasst zu haben. Darauf scheint zumindest die „Verpflichtung“ des Dramaturgen und Autors Bernd Stegemann durch die zentrale Figur der Bewegung, Sahra Wagenknecht, hinzudeuten. Stegemanns Anfang 2017 erschienenes Buch „Das Gespenst des Populismus“ hat offenbar großen Eindruck auf die Politikerin der Linkspartei gemacht, weshalb sie eine Zusammenarbeit forcierte. In der Süddeutschen Zeitung wurde Stegemann gar als „Mastermind“ hinter der Sammlungsbewegung bezeichnet.3
Stegemann spricht in seinem Buch Themen an, die für „Aufstehen“ von großer Relevanz sind. Besonders wichtig ist die Beschreibung des Begriffs Populismus und des Adjektivs populistisch sowie der Art und Weise, wie sie von der liberalen Mitte zur Diskreditierung anderer politischer Strömungen benutzt werden. Statt solcher Diskreditierung fordert Stegemann eine Analyse der systemischen, sozialen Gründe für den politischen Rechtsruck.

Der Vorwurf Populismus

„In den aktuellen politischen Auseinandersetzungen ist nicht nur eine Zunahme populistischer Techniken zu beobachten, sondern auch ein deutliches Anwachsen von Vorwürfen, etwas sei populistisch“, diagnostiziert Bernd Stegemann. Ihm zufolge ist der „inflationäre Populismusvorwurf […] ein Symptom für eine erschrockene liberale Öffentlichkeit, deren sachbezogenes Sprechen stark in Bedrängnis geraten ist und die ihre hegemoniale Position gefährdet sieht.“4 Sahra Wagenknecht dürfte Stegemanns Passagen über die Diffamierung durch den Begriff Populismus aufmerksam gelesen haben. Sie selbst findet sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, populistisch zu agieren.
Doch was ist eigentlich gemeint, wenn der Vorwurf des Populismus erhoben wird? Trotz der deutlich gestiegenen medialen Aufmerksamkeit und einer Fülle an neuen wissenschaftlichen Beiträgen zum Populismus bleiben sowohl die Definition des Begriffs als auch die Zuordnung zu bestimmten Akteuren umstritten. Ist Populismus eine Ideologie, ein politischer Stil oder ein Regimetyp? Können Hugo Chávez, Donald Trump und Marine Le Pen allesamt mit diesem Label versehen werden?
Der vielleicht wichtigste Theoretiker zum Thema Populismus, der 2014 verstorbene argentinische Philosoph Ernesto Laclau, hat sich stets gegen die Verwendung des Begriffs zwecks Schmähung ausgesprochen. Laclau hebt hervor, dass es sich beim Populismus nicht um eine bestimmte Ideologie, sondern um eine politische Logik handelt. Es ist, vereinfacht ausgedrückt, der Versuch, aus heterogenen Forderungen eine politische Allianz zu formen. Dies gelingt speziell durch die Verwendung zentraler Begriffe, die die verschiedenen Forderungen vereinen können (sogenannte leere Signifikanten).5
In den europäischen politischen Auseinandersetzungen geht der Begriff des Populismus jedoch meist mit einer Herabwürdigung des Gegenübers als irrational, unverantwortlich und demagogisch einher. Diese Diffamierungen sind teilweise in den Mantel einer Neuauflage der Totalitarismustheorie gehüllt, also der Gleichsetzung von rechter und linker Politik. So können berechtigte soziale Forderungen durch das Label des Populismus in die Nähe rechtskonservativer bis rechtsextremer Positionen gerückt und auf diese Weise delegitimiert werden.6 Der Soziologe Dieter Boris stellt diesbezüglich klar: „Vielfach wird auf scheinbare Gleichförmigkeiten von Rechts- und Linkspopulismus hingewiesen: Diskursive Zuspitzungen, emotionalisierte Sprache, Systemkritik und Elitenschelte usw. Dieser Eindruck kann sich gelegentlich einstellen und punktuelle Übereinstimmungen sind möglich. Letztlich kommt es aber auf die Gesamtausrichtung der Kritik an, auf die emanzipatorischen oder anti-emanzipatorischen Inhalte, Implikationen und die Zielrichtung. Inklusion, weitestgehende Egalität, Herrschafts- und Hierarchieabbau sowie demokratische Selbstbestimmung auf möglichst vielen Ebenen sind keineswegs Elemente rechtspopulistischer Diskurse oder Programmatik, wohl aber in der Regel bei linkspopulistischen Konzepten und realen Versuchen – ganz unabhängig von dem jeweiligen Grad der tatsächlichen Realisierung.“7

Soziale Ursachen des rechtspopulistischen Vormarsches

Dem oberflächlichen antipopulistischen Diskurs will Stegemann eine Suche nach systemischen Gründen für den Aufstieg des Rechtspopulismus in Deutschland (und auf globaler Ebene) entgegensetzen. Der Dramaturg sieht in der Reaktion der liberalen Mitte auf die politischen Veränderungen ein entscheidendes Problem. Sie „kann sich vordergründig gegen den Nationalismus oder Rassismus des rechten Populismus wehren und erspart sich dadurch, die systemischen Gründe für den Protest anzuerkennen.“8 An anderer Stelle wird er noch deutlicher: „Eine besonders raffinierte Weise der liberalen Selbstverteidigung besteht darin, zuerst zuzugestehen, dass wohl etwas schiefgelaufen ist bei der Globalisierung, wenn so viele Menschen sich davon ausgegrenzt fühlen, um dann zu behaupten, dass keine Zeit mehr für Veränderungen ist, da man zuerst dem erwachenden Nationalismus und Ressentiment begegnen muss. Und so kann man weitermachen wie bisher. Würde hier einmal Ursache und Wirkung in die richtige Reihenfolge gebracht, könnte man leicht erkennen, dass die ‚schieflaufende‘ Globalisierung und ihre Doppelmoral die Ursachen sind und sie darum kaum als Rettung gegenüber dem erwachenden Ressentiment taugen.“9
Wo müsste nun also eine Analyse der systemischen Gründe für den Rechtspopulismus ansetzen? Wenngleich monokausale Erklärungen (speziell über Ländergrenzen hinweg) fehl am Platze sind, so lässt sich doch hervorheben, dass die Veränderungen in der Arbeitswelt und – damit verbunden – in der sozialen Absicherung von großer Bedeutung sind. Es tritt immer deutlicher zutage, dass das „goldene Zeitalter des Kapitalismus“ (Eric Hobsbawm) endgültig vorbei ist. Der interventionistische Sozialstaat, der speziell für die Nachkriegsphase charakteristisch war, wird von vielen Regierungen abgebaut. Der relative soziale Frieden, der vom sozialstaatlichen Modell ausging, kann heutzutage nur noch schwer gesichert werden. Die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse (sowie die damit einhergehenden materiellen und symbolischen Verluste) haben bei vielen Menschen große Verärgerung hervorgerufen, die sich verstärkt gegen das politische Establishment richtet.10
Markant ist, dass die Unterstützer rechter Positionen nicht nur (wie es historisch häufig der Fall war) aus dem Kleinbürgertum, sondern vermehrt auch aus der Arbeiterklasse kommen.11
Bei einem Blick darauf, wie sich Rechtspopulisten darstellen, können die sozialen Ursachen des politischen Wandels leicht übersehen werden. Sie inszenieren ihre Organisationen als „Heimatparteien“, die in Zeiten von Entsolidarisierung eine neue Gemeinschaft stiften. Die Solidargemeinschaft, die sie anbieten, setzt sich jedoch nach ethnischen Kriterien zusammen. Rassifizierte Minderheiten werden von ihnen zu Sündenböcken für die schlechte soziale Lage gemacht. Der Sozialwissenschaftler Jörg Flecker schreibt diesbezüglich: „Menschen lassen sich aufgrund von Interessenverletzungen, Frustrationen und Kränkungen gegen ‚das System‘ mobilisieren, bleiben dabei aber den Ideologien der ökonomisch, kulturell und politisch Herrschenden verhaftet und zielen keineswegs auf eine Veränderung der Ungleichheit und der Machtverhältnisse zwischen den sozialen Klassen ab.“12 Die herrschenden Strukturen, die zur Verschlechterung der eigenen Lebensverhältnisse geführt haben, werden in rechtspopulistischen Diskursen ausgespart.

Fazit

Was lässt sich zusammenfassend zur Bedeutung des Begriffs des Populismus im Zusammenhang mit der Sammlungsbewegung „Aufstehen“ konstatieren? Der Verwendung des Begriffs zur Schmähung des politischen Gegners ist mit Skepsis zu begegnen. Wird er in dieser Art und Weise verwendet, trägt er nicht zu einer produktiven Debatte bei. In vielen Fällen lenkt er sogar von den sozialen Ursachen der politischen Turbulenzen ab, die mit den Veränderungen in der Arbeitswelt zusammenhängen.
Dies zu konstatieren bedeutet jedoch keineswegs, denjenigen, die als Rechtspopulisten bezeichnet werden, entgegenzukommen. Bernd Stegemann neigt in seinem Buch allerdings dazu, populistischen Protest per se als heilsames Korrektiv zu betrachten: „Erst wenn die Wähler in Scharen zur AfD abwandern“, behauptet er, „beginnt die CDU-Regierung darüber nachzudenken, ob es vielleicht Gründe für Migration gibt, die von Deutschland verschuldet sind und die auch hier geändert werden könnten.“13 Diese Worte verwundern. Zu einem sinnvollen Nachdenken über Migration haben die AfD und andere Parteien ihrer Couleur bisher nicht angeregt. Stattdessen sorgt ihr politischer Druck für den Bau höherer Grenzzäune und die Errichtung von Auffanglagern.
Es bleibt zu hoffen, dass der Einsatz für die Verlierer der neoliberalen Reformen in Deutschland, der bei „Aufstehen“ im Mittelpunkt zu stehen scheint, nicht auf Kosten der Solidarität mit geflüchteten Menschen erfolgt. Die zunehmende Prekarität in diesem reichen Land ist nicht die Folge der Ankunft von Migranten, sondern einer schon deutlich länger praktizierten, zerstörerischen Wirtschaftsweise.

  1. Norbert Frei: Verachtung. sueddeutsche.de, 02.02.2018.
  2. Vgl. Tim Houwen: The Non-European Roots of the Term Populism. Brighton, Sussex European Institute, Working Paper N° 120, 2011. Zur Verbindung zwischen lateinamerikanischen und europäischen Populismusdebatten vgl. Nicolás Damin und Mirko Petersen: Populismo entre Argentina y Europa. Sobre la transnacionalización de un concepto, in: Iberoamericana, Jg. 16, Nr. 3, 2016, S. 15-32.
  3. Vgl. Verena Mayer und Jens Schneider: „Aufbruch zum Kampf gegen die Verhältnisse“. sueddeutsche.de, 04.09.2018.
  4. Bernd Stegemann: Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie. Berlin, Theater der Zeit, 2017, S. 31.
  5. Vgl. Ernesto Laclau: On Populist Reason. London, Verso, 2005.
  6. Für Beispiele und kritische Anmerkungen dazu vgl. Dieter Boris: Aspekte von Linkspopulismus, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Jg. 27, Nr. 107, 2016, S. 19-29; Jan-Werner Müller: Was ist Populismus? Suhrkamp, Berlin 2016, S. 16-17.
  7. Boris: Aspekte von Linkspopulismus. s.o., S. 26.
  8. Stegemann: Das Gespenst des Populismus, s.o., S. 49.
  9. Ebenda, S. 68.
  10. Vgl. Jörg Flecker: Europäisches Sozialmodell, Krisenpolitik und die extreme und populistische Rechte, in: Hentges, Gudrun, Nottbohm, Kristina und Platzer, Hans-Wolfgang (Hg.): Europäische Identität in der Krise. Europäische Identitätsforschung und Rechtspopulismusforschung im Dialog. Wiesbaden 2017, Springer VS, S. 101-120, hier: S. 105.
  11. Vgl. u.a.: Ingar Solty: Wie konnte der herrschende Block die Kontrolle verlieren? Zu den Ursachen des Triumphs von Donald Trump in der US-Präsidentschaftswahl, in: Sozialismus 43 (12), 2016, S. 2–9, hier S. 5.
  12. Flecker: Europäisches Sozialmodell, Krisenpolitik und die extreme und populistische Rechte. s.o., S. 105-106.
  13. Stegemann: Das Gespenst des Populismus, s.o., S. 113.