von Gregor Putensen
Mit Schweden über Jahrzehnte durch Forschung und Lehre an einer Universität befasst, erlebte ich in der Nacht nach den Parlamentswahlen vom 9. September recht erstaunlich neuartige Erscheinungen im dortigen politischen Leben. Die halbe Nacht vor dem Fernseher sitzend, verfolgte ich eine dramatische, letztlich eigentlich höchst „unschwedische“ Stimmenauszählung und die unvermeidlichen Wahlpartys. Unverdrossen war der Jubel der Anhänger merkwürdigerweise aller zum Votum angetretenen Parteien. Die von Meinungsforschern vorausgesagten katastrophalen Verluste für regierende Sozialdemokraten (SAP) und Grüne (MP) fielen etwas weniger desaströs aus. Und der prognostizierte Durchmarsch der neofaschistisch-fremdenfeindlichen Schwedendemokraten zur stärksten oder zumindest zweitstärksten Partei hatte trotz mehr als 4,5 Prozentpunkten Stimmenzuwachs nicht stattgefunden. Die Triumphgesten auf den vom Fernsehen brav rapportierten Partys schienen ausschließlich von Siegern zu künden. Die Beifallsbekundungen für die jeweiligen Spitzenwahlkämpfer wurden nicht mehr – wie früher üblich – durch Applaus oder Hurra-Rufe bestimmt. Vielmehr dominierten im Klangbild die fast schmerzhaften hochfrequenten Triumphschreie imaginärer Indianerstämme. Die Amerikanisierung – wenngleich vielleicht auch nur im Bereich politischer Gefühlsregungen – scheint zu einem obligaten Element moderner Verhaltenskultur geworden zu sein.
All der fernsehgerechte Jubel hat jedoch nicht übertönen können, dass das landesweite Wahlergebnis (gleichzeitig gab es Wahlen zu den regionalen Vertretungskörperschaften) vorerst keine tragfähige Entscheidung über eine künftige Regierung erbracht hatte. Ein unglaubliches, um Zehntelprozente schwankendes Patt zwischen den mehr oder weniger linken Parteien (Sozialdemokraten, Grünen und Linkspartei) einerseits und der bürgerlichen Vierparteienkoalition aus Moderater Sammlungspartei, freikirchlich geprägten Christdemokraten, Liberalen und ländlich-grüner Zentrumspartei andererseits ließ alles im Unklaren. Ein in Schweden seit Jahrzehnten nicht erlebter Frust bei der Stimmenauszählung brachte erst vier Tage nach der Wahl ein Endergebnis: 40,7 Prozent für die einen, 40,2 für die anderen; in Mandaten 144 zu 143. Ein ähnliches Patt gab es bei Reichstagswahlen nach Ende des zweiten Weltkrieges nur einmal: 1973 endete die Wahl mit einem Unentschieden von 175 zu 175 Mandaten zwischen „Linken“ und bürgerlichem Block. Die Phase politisch unwägbarer Entscheidungen des darauf folgenden „Lotterie-Reichstags“ wurde nach drei Jahren durch eine Parlamentsreform beendet: Die Zahl der Mandate wurde auf ungerade 349 reduziert.
Heute indes hat das unerwartete praktische Patt einen ganz anderen Stellenwert. Die neofaschistisch-fremdenfeindlichen Schwedendemokraten (SD) können sich durch ihren neuerlichen Einzug als nunmehr drittstärkste Fraktion mit 62 Sitzen als Zünglein an der Waage zwischen beiden Lagern künftig noch deutlicher Geltung verschaffen. Und das schon am 24. September, wenn bei der Konstituierung des neuen Reichstags die Wahl des Parlamentspräsidenten erfolgt, der am nächsten Tag gegebenenfalls den Auftrag zur Regierungsbildung vergibt. Die große Frage ist: Wer wird das sein? Welche Partei oder Parteiengruppierung wird mit der Regierungsbildung beauftragt? Vieles wird bedauerlicherweise von den Schwedendemokraten abhängen.
Beide Seiten – sowohl Sozialdemokraten, Grüne und Linke als auch die bürgerliche Allianz – verweigern sich in ihren offiziellen Erklärungen jeglicher Zusammenarbeit mit der SD-Fraktion. Die Gelübde der bürgerlichen Parteien sind angesichts des Ringens um die Regierung allerdings als nicht allzu belastbar zu werten. Vor allem innerhalb der größten der vier bürgerlichen Parteien, der Moderaten Sammlungspartei (dereinst Rechtspartei, umgetauft im Jahre 1969), gab es in der vergangenen Wahlperiode bis in die Reihen von Spitzenfunktionären aus „pragmatischem“ Machtkalkül deutliche Bestrebungen zu offener Kooperation mit den SD-Abgeordneten. Das zeigte sich bereits in der Offerte des SD-Vorsitzenden Jimmy Åkesson, den Moderaten-Parteichef Ulf Kristersson als künftigen Ministerpräsidenten zu unterstützen. Eine Versuchung, der sich – so scheint es bislang – wohl nur die Zentrumspartei und die Liberalen glaubhaft widersetzen würden.
Darauf hofft wiederum der doch nicht ganz so schlimm durch Stimmverluste (minus 2,8 Prozentpunkte) geschwächte bisherige sozialdemokratische Premier Stefan Löfven, der die Zentrumspartei (CP) und die Liberalen (L) eingeladen hatte, die Bildung einer Regierung über die bisherigen „Blockgrenzen hinweg“ zu erörtern. Das demonstrative Nein der beiden angesprochenen Parteivorsitzenden Anni Lööf (C) und Jan Björklund (L) klang wie ein Rütlischwur bürgerlich-solider Blockgeschlossenheit. Aber natürlich wurde hinter den Kulissen bereits verhandelt. Vorrang hatte zunächst Gesichtswahrung. Der Anschein im Wahlkampf deklarierter Prinzipienfestigkeit und so mancherlei begangene Dreckschleuderei gegen politische Konkurrenten forderten ihren ritualisierten Tribut in Form öffentlich demonstrierter Ablehnung.
Vorerst bietet das politische Schweden ein Bild, das man zwar aus anderen EU-Staaten kennt, das aber kaum – so wollte man glauben – auf unsere Nachbarn an der nördlichen Küste der Ostsee zutreffen sollte. Die nach diesen Wahlen offene Frage, welche Partei oder Parteiengruppierung mit wessen direkter oder indirekter Unterstützung die Geschicke dieses Landes bestimmen wird, signalisiert trotz erfolgreicher Wirtschaftskonjunktur unverkennbare Anzeichen einer gesellschaftlichen Abstiegstendenz. Die über viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zu Recht aufmerksam verfolgten sozialen Erfolge des schwedischen Wohlfahrtsstaates sind durch die neoliberale Durchdringung von Staat und Gesellschaft sowie deren Wertsetzungen zunehmend in Frage gestellt worden. Zurückschauend war – wenn ich mich recht erinnere – in mancher politischen und fachlichen Diskussion der Sammelbegriff des „gewöhnlichen Kapitalismus“ zur Charakterisierung der Zustände in bestimmten Ländern des Westens im Gebrauch. Für Schweden schien mir und den meisten meiner Kollegen dieser Begriff nicht anwendbar. Erst seit 1995, seit dem EU-Beitritt Schwedens, offenbarte sich eine Tendenz sozialer Erosion, die es immer deutlicher in die Kategorie anderer Staaten des „gewöhnlichen Kapitalismus“ einzureihen erlaubt. Die neue beunruhigende Qualität des jüngsten Wahlergebnisses scheint diese Annahme zu bestätigen.
Prof. Dr. Gregor Putensen, wohnhaft in Greifswald, war in Forschung und Lehre auf dem Gebiet von Außen- und Sicherheitspolitik der Staaten Nordeuropas an der vormaligen Sektion Nordeuropawissenschaften der Universität Greifswald tätig.
Schlagwörter: Gregor Putensen, Regierungsbildung, Reichstag, Schweden, Wahlen