21. Jahrgang | Nummer 20 | 24. September 2018

Erinnerungen an die Zukunft

von Joachim Lange

In Halle begann die neue Spielzeit in einer Neuauflage der Raumbühne mit Verdis „Messa da Requiem“, dem Ballett „#Bizarr“ und der Schauspielversion von „Nackt über Berlin“
„Untergang genießen“ steht auf der Halbjahreszeitung der Oper Halle. Dieses Motto ist natürlich keine Koketterie mit einem von manchen herbeigewünschten Untergang der Opernleitung um Intendant Florian Lutz. Es ist ein in Dramaturgensprech übersetzter Wegweiser durch eine spannende Spielzeit und zur neuen Raumbühne. Für die Vorgängerversion „Heterotopia“ hat Bühnenbildner Sebastian Hannak den Theaterpreis FAUST bekommen. Dazu gab es beim Jahresranking der Deutschen Bühne für Halle Platz 1 in der Kategorie „Interessante Häuser abseits der Zentren“.
Die Raumbühne ist der Ort für die Art Mitmach- und Erlebnis-Theater, das Florian Lutz zur Spielzeiteröffnung mit einer dystopischen Version von Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“ erneut entfesselt. In der Raumbühne, bei der das überbaute Parkett samt der mehrstöckigen Zuschauergalerien ohne vierte Wand zum Schauplatz des Geschehens wird, gibt es dann auch noch eine Ballettproduktion, ein Schauspiel und ein weiteres Opernprojekt. Damit verteilen sich die Kosten für den aufwändigen Umbau für eine Kleinserie auf mindestens vier Produktionen. Einige Plätze stehen damit zwar nicht mehr an der Kasse zur Verfügung. Aber die zur Verfügung stehende Platzzahl liegt immer über der Auslastung.
Mit „Babylon“ wird eine Stadtlandschaft nach einer großen Katastrophe imaginiert, die die heutzutage im politischen Diskurs gängigen Untergangs- und Endzeitszenarien beim Wort nimmt und versucht, die Gegenwart aus dieser Perspektive neu zu denken.
Dazu passt Verdis Requiem verblüffend gut. Der Form und dem Namen nach eine Totenmesse, galt das 1874 uraufgeführte Werk schon Verdis Zeitgenossen als Steilvorlage für die Bühne, gar als Verdis größte Oper. Allein wenn das „Dies irae”, die Tage des Zorns, donnernd losbricht, entstehen Bilder gleichsam von selbst.
Bei Florian Lutz lässt der Filmklassiker „Planet der Affen“ grüßen, denn die Primatenverwandtschaft der Menschen hat die Macht übernommen. Der auf 70 Köpfe verstärkte und fabelhaft einstudierte Chor trägt Affenmasken und -fell. Ein Teil des Publikums ebenfalls Masken und Schutzanzüge. Mord und Totschlag wie bei Kain und Abel gibt es auch schon. Der siegreiche Oberaffe lässt sich feiern, seine Truppen marschieren und Cola-Büchsen und Bananen verteilen. Dass der letzte Teil auch bei den Zuschauern funktioniert hat dialektischen Witz.
Menschen haben hier zwischen Müllsäcken, auf Inseln der Wildnis, in einem alten Kleinbus oder in einem unentdeckten Labor überlebt. Romelia Lichtenstein, Eduardo Aladrén, Ki-Hyun Park und Svetlana Slyvia machen das durchweg mit vollem vokalem und darstellerischem Einsatz. Immerhin haben sie noch so viel Zugang zu den Resten ihrer auch zerstörerischen Technologie, dass sie in einer Simulation, die zwischen Befriedung und Töten der Affen variiert, einen Restart der Zivilisation versuchen können. Was sie – wen wundert’s – mit der Präferenz „alle töten“ auch tun.
Das Orchester unter der umsichtig koordinierenden Leitung von Christopher Sprenger ist zu ebener Erde sichtbar im Zentrum platziert. Zum finalen „Libera me“ („Befreie mich“) tauchen die Menschen im Einheitslook wieder aus der Versenkung auf. Und jeder zückt sein Smartphone und gibt seine individuellen Wünsche nach Befreiung (von schlechtem Wetter, über Krankheit bis Helene Fischer) ein. Dieser explodierende metaphorische Egoismus ist als großes Fragezeichen die Antwort, die der packende Abend bereithält. Tröstlich ist das nicht, aber eine Herausforderung zum Nachdenken.
Eher eine Wohlfühlübung war da am Folgetag das Ballett „#Bizarr“. Michal Sedláček spielt in seiner zweiten eigenen Arbeit mit der Melancholie der Vergänglichkeit und der immer wieder aufbrechenden Lust am Leben und der Schönheit. Maßgeschneidert für die Raumbühne ist sein Ballettspektakel zur (eingespielten) Musik von Johann Sebastian Bach, Johann Pachhelbel und Peter Gabriel allemal. Meistens füllen die 19 Tänzer die Drehbühne so, dass vor allem die Zuschauer auf den Bühnenplätzen die Energie der Tänzer hautnah erleben können. Dann aber erklimmen einzelne auch mal die Plateaus auf der Höhe des ersten Ranges und wanken dort wie ein hilfloser Halm im Sturm des Lebens.
Das Ganze beginnt noch vor dem Einsetzen der Musik mit meditativem Schreiten der Tänzer zu Vogelgezwitscher. Dabei finden sie sich allesamt, wie aus ihrer Zeit gefallen, staunend in der imaginierten Postapokalypse der Raumbühne wieder. Der hinreißende Barocklook, von Carla Caminati der Truppe auf den Leib geschneidert, hat bei ihrer Zeitreise an diesen wundersamen Ort offenbar gelitten. Aber die Versatzstücke, die bei jedem übrig geblieben sind, faszinieren in ihrer Opulenz. So wird jeder einzelne zu einem personifizierten Momento Mori, dem gleichwohl die Lust an Bewegung und Schönheit, ja dem Leben in der Kunst innewohnt. Die immer wieder ausbricht. Paradiesisch wird es, wenn zwei Paare wie Adam und Eva nach dem Apfel schnappen, der ihnen vor der Nase schwebt, und dann der, der ihn an der Strippe zog, irgendwann einfach hineinbeißt. Beklemmend, wenn gegen Ende der eiserne Vorhang zum Zuschauerraum und zur Seitenbühne die Tänzer, die man gerade im Video als Alltagsmenschen erlebt hat, plötzlich in ihrem Künstlersein gefangen sind. Um dann wieder befreit und abgeschminkt den verdienten, herzlichen Applaus entgegenzunehmen.
Den Eröffnungs-Dreier komplettierte das Schauspiel. In der Raumbühne Heterotopia war das Schauspiel der Clou: Henriette Hörnigk gelang eine Version von Elfriede Jelineks „Wut“, die landesweit konkurrenzfähig war. In der Raumbühne Babylon ist es mit ihrer Theaterversion von „Nackt über Berlin“ jetzt leider genau umgekehrt. Eher ein Decrescendo in Sachen Theater-Spannung und Relevanz. Formal ist es wieder die Bespiegelung der Raumbühne mit den Zuschauern auf der Drehbühne. Aber die drei Bruttostunden verlangen weit mehr Durchhaltewillen der Zuschauer als das gedruckte oder das gesprochenen Buch. Der Roman von Multitalent Axel Ranisch ist nämlich schlichtweg ein Renner. Mit Lust am Wortwitz und schlau gebaut. Er spielt mit der Fallhöhe zwischen Gag und Todernst. Beginnt mit einem pragmatischen Lebens-Hoplahopp beim Erwachsenwerden und -sein. Schleicht sich wie ein Teenagerstreich mit einem besoffenen Direktor an, der in seiner Wohnung eingesperrt wird, ist in vielerlei Hinsicht musikalisch und landet unversehens bei einem Psychothriller, bei dem der Leser ebenso wenig eine Chance hat zu entkommen, wie der eingesperrte und zu einer Lebensbeichte gezwungene clevere Pädagoge Jens Lamprecht. Ranisch erlaubt dabei mehr oder weniger Empathie mit allen seinen Figuren.
Auf der Bühne gelingt diese Melange und Fallhöhe, die eine Theaterversion dieses Romans (wenn sie denn schon sein muss, weil es offenbar keine Stücke gibt) eigentlich legitimieren müsste, nicht wirklich. Hier werden die Figuren zu Klischees. Matthias Walter verkauft den Lamprecht als dauer-schnoddrigen Kietz-Lehrer, der nicht älter werden kann. Selbst die beiden Jungs Jannik und Tai (Fetti und Fidschi) bleiben blass. Axel Pensels Jannik, dem wir im Buch beim Erwachsenwerden zusehen, bleibt ein körperlich (albern) ausgestopftes Musiklexikon. Und Ali Aykar fehlt als Tai zumindest das diaoblisch Planende.
Die Qualität des Romans, (Film-)Bilder im Kopf entstehen und den Leser nicht von der Angel zu lassen, wird diesem Versuch, eine wilde Komödie mit etwas Tiefgang daraus zu machen, in der Raumbühne zum Verhängnis. Alles kommt ungefähr auf dem gleichem Jetzt-lach-doch-mal-Level rüber, wobei Barbara Ehlert als Janniks Mutter noch das leichteste Spiel hat, während die vietnamesische Verwandtschaft von Tai im kunterbunten Klamauk untergeht. Das gelegentliche Aus-der-Rolle-Treten oder die eingestreuten Songs machen das nicht besser. Was die Ausrutscher mit der Anspielung auf Freital oder der Kranz mit der Widmung „Für eine deutsche Mutter“ sollen, erschließt sich schon gar nicht, passt aber zur Währung der kleinen Pointe, mit der an diesem Abend allzu oft gezahlt wird. So wird der Abend unversehens zu einer Lektüreempfehlung.

Axel Ranisch: Nackt über Berlin. Ullstein Buchverlage, Berlin 2018, 384 Seiten, 20,00 Euro, auch als Hörbuch, gelesen von Axel Ranisch und Thorsten Merten.