von Renate Hoffmann
„Ein an gefährlichen Küstenpunkten für die Schiffahrt errichtetes Gebäude als Träger eines Feuers (Lichtes), welches nachts und an trüben Tagen dem Schiffer als Wegweiser dient“, so beschreibt der Konversations-Meyer im Jahr 1897 den Leuchtturm. Meyer verlautbart allerdings nichts über das Vergnügen, einen solchen Turm zu ersteigen, um die Fernsicht zu genießen. Erwähnt jedoch, dass bereits Homer in der Odyssee von „Leuchtfeuern“ berichtet, und schließlich der Leuchtturm der Insel Pharos (bei Alexandria) zu den antiken Weltwundern zählt.
Daraufhin beschloss ich, ebenfalls einen berühmten Leuchtturm aufzusuchen. Er müsste nicht unbedingt die Höhe seines berühmten Vorgängers erreichen, die mit bis zu 160 Metern vermutet wird. Aber eine Besonderheit sollte er schon darstellen. – Der südlichste Leuchtturm Deutschlands! Lindau im Bodensee.
Ein sonntäglicher Morgen in der Inselstadt. An der Seepromenade, obwohl noch früh am Tag, wird den Gästen der Kaffee im Freien serviert. Der ungewöhnliche Sommer lockte sie aus den Hotelbetten. In die Hafeneinfahrt biegt ein Schiff mit rot-weiß-roter Flagge und bringt die ersten Touristen von Bregenz herüber. Es lächelt der See, und vom Schweizer Ufer lächeln die Vorberge.
Die beiden Molen umschließen schützend das Hafenbecken. Auf der einen sitzt, grimmig sein Land vertretend, der bayrische Löwe, auf der anderen steht der Neue Leuchtturm. Demzufolge gab es auch einen älteren, der zeitweilig die Wegweiser-Funktion für die Schiffer übernahm. An der Uferpromenade gehe ich an ihm vorbei. Zu lesen ist: „Dieser Turm genannt der Mangenturm ward im XII. Jahrhundert erbaut zu Leuchte Schutz und Trutz unseres Seehafens …“ Sein spitzes Dach ist mit bunt glasierten Ziegeln geschmückt und mildert den Trutz des Unterbaues.
Die Gittertür zur langen Mole ist noch verschlossen. Ich warte geduldig. Ein Herr mit Hund und Schlüssel nähert sich. Ich folge ihm auf den Fuß. „Wollen Sie hinauf?“, fragt der Leuchtturmwärter. „Ja.“ „Es sind hundertneununddreißig Stufen und die obere Tür ist noch nicht geöffnet.“ „Ist sie abgeschlossen?“ „Nein.“ „Dann könnte ich das Öffnen doch übernehmen.“ „Trauen Sie sich das zu?“ „Ja!“ Kurze Überlegung, dann Zustimmung und Erlass des Eintrittsgeldes … Ich fühle mich als befugte Diensthabende und wendle in die Höhe. Eine lehrreiche Aufwärtsbewegung. Und auf der oberen Plattform werde ich den Eindruck gewonnen haben, Stufe um Stufe durch einen Spezial-Leuchtturm-Baedeker gegangen zu sein.
Zuerst die Verhaltensregeln für Aufsteiger: „Herunterspucken verboten […] Der Herabkommende hat das Vorgehrecht.“ – Über den Leuchtturm, erbaut 1853-1856, erfährt man so manches. Dass er 33, nach anderen Quellen 36 Meter hoch aufragt. Die Dreimeter-Differenz deute jeder nach Belieben. Ab 4. Oktober 1856 blinkte er so hell und durchdringend, dass bei klarer Sicht das Geblinzel in Konstanz (etwa 40 Kilometer entfernt) von erhöhtem Ort aus zu sehen war. Das Feuer folgte dem technischen Fortschritt. Anfangs durch Öl erzeugt, später von Petroleum, Gas und Elektrizität abgelöst, und von zwei rotierenden Parabolspiegeln im Dreisekundentakt ausgesendet. Der Bodenseeschifffahrt zum Nutzen, den Lindauer Bürgern zum Verdruss. Das wechselnde Aufleuchten störte ihren Schlaf. Man musste einlenken und nachts das Licht zur Landseite abblenden. – Nunmehr ist das Lichtsignal vollautomatisiert. Die Schiffe können es per Funk aktivieren.
Auf jeder Zwischenwendel-Etage gibt es Neuigkeiten. In einem Holzverschlag hängt die Nebelglocke. Die Betätigung des mächtigen Blasebalgs, der ehemals das Nebelhorn zum Brüllen brachte, ist ohne einen athletischen Leuchtturmwärter kaum denkbar.
Schiffe und ihre Vergangenheit werden vorgestellt. Ruhmreich, traurig. Ein Lastensegler, die „Lädin“. Sie stand viele Jahre treu in Diensten und sank 1875 bei einem schweren Sturm. Das erste eiserne Dampfschiff, „Ludwig“ geheißen, bestaunt, bewundert und dennoch untergegangen … aber nach zwei Jahren wieder gehoben. Man wird belehrt, was der Föhn, der „wilde Geselle“, anrichten kann, sobald er mit Urgewalt von Süden her einfällt und den See toben lässt.
Wenn der Bodensee vollends und tief zugefroren ist, dass, wie im Jahr 1963 sogar Sportflugzeuge auf dem Eis landeten, so lautet der lokale Fachausdruck dafür: „Seeg’frörne“. Ohne den Hinweis im Lindauer Leuchtturm hätte ich die sinnige Bezeichnung nie durchschaut. – Verschmitzte Geschichten zwischen den Informationen. Zum Beispiel diejenige vom Seehasen, einem zoologischen Wundertier der Region, ausgestattet mit Schwimmhäuten und eierlegend wie der Osterhase. – Darüber hinaus reale Angaben zu Wind, Wetter, Pegelständen, Fischreichtum und zur Vogelwelt. Ein Aufstieg der Aufklärung.
Düstere Prognosen, eingestreut in die Tatbestände der Gegenwart, stimmen bedenklich: „Der Bodensee wird in 10- bis 15.000 Jahren der Vergangenheit angehören.“ Eilig öffne ich die obere Tür zur Aussichtsplattform, um noch einen vorletzten Blick auf das „Schwäbische Meer“ zu werfen, bevor es versickert. – Und schon stellt sich das Wonnegefühl des weiten Rundumblicks ein wie es hohe Berge und Leuchttürme hervorbringen können.
Unten auf der Lindauer Seepromenade spielt eine Musikkapelle. Kinder in ständiger Bewegung, störrische Hunde, Flanierende, Grüppchen mit Stadtführer, Glockengeläut. Leicht gewellt – der große See. Ausflugsschiffe und Segelboote. Als winzige weiße Punkte ziehen Schwäne am Ufer entlang. Und am Himmel? Die Oldtimer der Lüfte. Das Dornier Museum für Technik und Geschichte der Luftfahrt Friedrichshafen und namentlich an den Flugzeugkonstrukteur Claude Dornier (1884–1969) erinnernd, veranstaltet einen Flugtag. Die „Fliegenden Kisten“ summen über Land und Wasser. Lautlos und unwirklich, der Fata Morgana gleich, schwebt ein Zeppelin vorüber. Was für ein Morgen.
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