von Uri Avnery, Tel Aviv (†)
Dieser Beitrag ist der Letzte aus der Feder des Friedensaktivisten Uri Avnery, der am 20. August in Tel Aviv gestorben ist. Sein Einsatz für einen palästinensischen Staat an der Seite Israels, für Frieden in Nahost ist legendär und wird bei Freund und wohl auch bei Feind unvergessen bleiben. Lange Jahre hat Das Blättchen bei Uri Avnery Erklärungen und Orientierung im Chaos des Nahostkonflikts gefunden. Wir konnten immer wieder seinen kämpferischen Optimismus bewundern und uns von seinem Humor bezaubern lassen. „Pessimismus ist bequem. Dann braucht man nichts zu machen“, sagte er – zum Nachdenken zwingend. Uri Avnery wird uns fehlen.
Die Redaktion
Vor Jahren hatte ich ein freundschaftliches Gespräch mit Ariel Scharon. Ich sagte zu ihm: „Ich bin in erster Linie Israeli. Erst danach bin ich Jude.“
Er antwortete hitzig: „Ich bin in erster Linie Jude und erst danach bin ich Israeli!“
Das mag sich nach einer überflüssigen Debatte anhören. Aber in Wirklichkeit ist eben das die Frage, die im Zentrum all unserer Grundprobleme steht. Sie liegt der Krise zugrunde, die jetzt Israel in Stücke reißt.
Der unmittelbare Grund für diese Krise ist das Gesetz, das in der letzten Woche von der rechten Mehrheit in der Knesset in aller Eile verabschiedet wurde. Es trägt den Titel: „Grundlegendes Gesetz: Israel ist der Nationalstaat des jüdischen Volkes“.
Es ist ein Verfassungsgesetz. Als Israel im Krieg von 1948 gegründet wurde, führte es keine Verfassung ein. Es gab Schwierigkeiten mit der religiösen Gemeinschaft der Orthodoxen, die die Einigung auf eine gemeinsame Formulierung unmöglich machten. Stattdessen verlas David Ben-Gurion eine „Unabhängigkeitserklärung“. Darin wurde verkündet: „Wir gründen den jüdischen Staat, nämlich den Staat Israel“.
Die Erklärung wurde nicht zum Gesetz. Der Oberste Gerichtshof nahm seine Prinzipien an, ohne dass er eine Rechtsgrundlage gehabt hätte. Das neue Dokument hingegen ist ein verbindliches Gesetz.
Was ist an dem neuen Gesetz, das auf den ersten Blick wie eine Abschrift der Erklärung wirkt, nun also das Neue? Es enthält zwei wichtige Auslassungen: In der Erklärung war von einem „jüdischen und demokratischen“ Staat die Rede und allen Bürgern des Staates wurde ohne Unterschied von Religion, Volkszugehörigkeit und Geschlecht vollkommene Gleichberechtigung zugesagt. Beides ist verschwunden. Keine Demokratie. Keine Gleichberechtigung. Ein Staat der Juden für die Juden von den Juden.
Die Ersten, die aufschrien, waren die Drusen. Die Drusen sind eine kleine, aber starke Minderheit. Sie schicken ihre Söhne in die israelische Armee und Polizei und betrachten sich als „Blutsbrüder“. Plötzlich sind sie all ihrer Rechte und ihres Zugehörigkeitsgefühls beraubt.
Sind sie Araber oder nicht? Muslime oder nicht? Das kommt darauf an, wer wo zu welchem Zweck spricht. Sie drohen mit Demonstrationen, damit, dass sie die Armee verlassen und allgemein rebellieren werden. Benjamin Netanjahu versucht sie zu bestechen, aber sie sind eine stolze Gemeinschaft.
In der Hauptsache geht es jedoch nicht um die Drusen. Im neuen Gesetz werden die 1,8 Millionen Araber, die israelische Bürger sind, vollkommen ignoriert, auch die Beduinen und die Christen unter ihnen. (Niemand denkt auch an die Hunderttausende europäischer Christen, die mit ihren jüdischen Ehepartnern und anderen Verwandten vor allem aus Russland eingewandert sind.) Die arabische Sprache mit all ihrem Glanz, die bisher eine der beiden Amtssprachen war, wurde auf einen bloßen „besonderen Status“ herabgestuft – was das auch bedeuten mag. (Alles das bezieht sich auf das eigentliche Israel, nicht auf die etwa fünf Millionen Araber im besetzten Westjordanland und im Gazastreifen, die überhaupt keine Rechte haben.)
Netanjahu verteidigt dieses Gesetz wie ein Löwe gegen die zunehmende Kritik von innen. Er hat öffentlich erklärt, dass alle jüdischen Kritiker des Gesetzes Linke und Verräter (das sind ohnehin Synonyme) seien, „die vergessen haben, was es bedeutet, Jude zu sein“. Und genau darum geht es.
Vor Jahren forderten meine Freunde und ich den Obersten Gerichtshof auf, die Eintragung unter „Nationalität“ in unseren Ausweisen von „jüdisch“ in „israelisch“ abzuändern. Das Gericht lehnte ab und behauptete, es gebe keine israelische Nation. Das offizielle Register kennt fast hundert Nationen, aber keine israelische.
Die seltsame Situation entstand mit dem Zionismus im späten 19. Jahrhundert. Es war eine jüdische Bewegung, die dazu entworfen worden war, die Jüdische Frage zu lösen. Die Siedler in Palästina waren Juden. Das ganze Projekt war eng mit der jüdischen religiösen Tradition verbunden. Als aber eine zweite Generation von Siedlern aufwuchs, fühlte sie sich unbehaglich, wenn sie nur einfach Juden – wie Juden in Brooklyn oder Krakau – sein sollten. Sie empfanden sich als etwas Neues, Anderes, Besonderes.
Die Extremstem waren die Angehörigen einer kleinen Gruppe junger Dichter und Künstler, die 1941 eine Organisation gründeten und dann den Spitznamen „Kanaaniter“ bekamen. Sie verkündeten, wir seien eine neue hebräische Nation. In ihrer Begeisterung gingen sie bis zum Äußersten und erklärten, sie hätten nichts mit den Juden im Ausland zu tun und es gebe keine arabische Nation – Araber seien einfach nur Hebräer, die den Islam angenommen hätten.
Dann kam die Nachricht vom Holocaust, die Kanaaniter gerieten in Vergessenheit und alle wurden reumütig zu Superjuden. Oder doch nicht ganz. Ohne dass wir viel nachdachten, machte meine Generation in ihrer Umgangssprache einen deutlichen Unterschied: es hieß jüdische Diaspora und hebräische Landwirtschaft, jüdische Geschichte und hebräische Batallione, jüdische Religion und hebräische Sprache. Als die Briten noch hier waren, nahm ich an Dutzenden von Demonstrationen teil, bei denen wir schrien: „Freie Einwanderung! Hebräischer Staat!“ Ich kann mich nicht erinnern, dass auch nur bei einer einzigen Demonstration irgendjemand „jüdischer Staat!“ geschrien hätte.
Warum war also in der Unabhängigkeitserklärung von einem „jüdischen Staat“ die Rede? Es war eine Bezugnahme auf die UN-Resolution. Darin wurde die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat verfügt. Die Staatsgründer stellten einfach fest, dass wir den in der Resolution genannten jüdischen Staat nun errichtet hätten.
Der legendäre Vorfahr des Likud Vladimir Jabotinsky schrieb eine Hymne, in der es hieß: „Ein Hebräer ist ein Fürstensohn“. Tatsächlich ist es ein ganz natürlicher Prozess. Eine Nation ist eine territoriale Einheit. Sie ist durch Landschaft, Klima, Geschichte und Nachbarn bedingt. Als sich Briten in Amerika ansiedelten, hatten sie nach einiger Zeit das Gefühl, sie seien anders als die Briten, die sie auf ihrer Insel zurückgelassen hatten. Sie wurden zu Amerikanern. Die britischen Sträflinge, die in den entfernten Osten geschickt worden waren, wurden Australier. In zwei Weltkriegen eilten Australier Britannien zur Hilfe, aber sie waren keine Briten. Sie sind eine stolze neue Nation. Ebenso die Kanadier, Neuseeländer und Argentinier. Und wir eben auch.
Oder wir wären es jedenfalls geworden, wenn die offizielle Ideologie das zugelassen hätte. Was war geschehen?
Zuerst einmal gab es in den frühen Fünfzigerjahren die riesigen Einwanderungswellen aus der arabischen Welt und aus Osteuropa. Auf jeden Hebräer kamen zwei, drei, vier neue Einwanderer, die sich als Juden betrachteten. Dann brauchten wir Geld und politische Unterstützung von den Juden im Ausland, besonders denen in den USA. Diese betrachteten sich zwar als vollkommene und wahre Amerikaner (wage ja nicht, dem zu widersprechen, du verdammter Antisemit!), aber sie waren doch froh, irgendwo einen jüdischen Staat zu wissen.
Und dann gab (und gibt!) es eine strikte Regierungspolitik, die darauf aus ist, alles zu judaisieren. Die gegenwärtige Regierung hat in dieser Hinsicht neue Höhen erklommen. In aktiven – ja geradezu fanatischen – Regierungsaktionen wird versucht, alles zu judaisieren: die Erziehung, die Kultur, sogar den Sport. Die kleine Minderheit der orthodoxen Juden in Israel übt enormen Einfluss aus. Ihr Votum in der Knesset entscheidet über Netanjahus Regierung.
Als der Staat Israel gegründet wurde, wurde das Wort „hebräisch“ durch das Wort „israelisch“ ersetzt. Hebräisch ist jetzt nur noch eine Sprache. Gibt es nun also eine israelische Nation? Natürlich gibt es die. Gibt es eine jüdische Nation? Natürlich gibt es die nicht.
Juden sind Mitglieder eines ethnisch-religiösen Volkes. Sie sind in der Welt zerstreut, gehören vielen Nationen an und die meisten fühlen sich eng mit Israel verbunden. Wir, die wir hier im Land leben, gehören zur israelischen Nation, die ein Teil des jüdischen Volkes ist.
Es ist sehr wichtig, dass wir das erkennen. Es entscheidet ganz buchstäblich über unsere Blickrichtung: Blicken wir in Richtung der jüdischen Zentren in New York, London, Paris und Berlin oder blicken wir in Richtung unserer Nachbarn in Damaskus, Beirut und Kairo? Gehört unser Land zu einer Region, die von Arabern bewohnt wird? Machen wir uns klar, dass Frieden schließen mit den Arabern und besonders den Palästinensern die Hauptaufgabe dieser Generation ist?
Wir sind in diesem Land nicht Bewohner auf Zeit und wir sind nicht jeden Augenblick bereit, uns unseren jüdischen Brüdern und Schwestern in anderen Ländern der Erde zuzugesellen. Wir gehören zu diesem Land und wir werden hier noch viele künftige Generationen leben. Deshalb müssen wir zu friedlichen Nachbarn in der Region werden, die ich schon vor 75 Jahren „die semitische Region“ genannt habe.
Das neue Nationen-Gesetz zeigt uns eben durch seine halbfaschistische Natur, wie dringlich diese Debatte ist. Wir müssen entscheiden, wer wir sind, was wir wollen und wohin wir gehören. Andernfalls ist unser Staat dazu verdammt, dauerhaft ein Staat der Zeitweiligkeit zu sein.
Aus den Englischen von Ingrid von Heiseler.
Schlagwörter: Israel, israelische Nationalität, Religion, Uri Avnery, Verfassungsgesetz, Zionismus