von Renate Hoffmann
Ins Baskenland. Nach Bilbao, eine Stadt, die einstens in der üblen Nachrede stand, Grau-in-Grau zu sein. Schwerindustrie und Werften am Flussufer des Nervión brachten zwar Reichtum, doch auch in Verruf. Der Sturz aus den Wolken geschah in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Eine schwere industrielle Krise führte zu steigender Arbeitslosigkeit, Abwanderung und sozialen Spannungen. Fabrikanlagen standen zum Teil leer. Die Lebensqualität sank, der Grauton nahm zu. – In der baskischen Verwaltung reagierte man schnell und großzügig. Ein Aktionsplan wurde erstellt und in die Tat umgesetzt. Struktur und Substanz der Stadt erfuhren eine Wandlung. Das weiträumige alte Fabrikgelände am Fluss ersetzte man durch viel Grün und kulturelle Einrichtungen. Sie sollten Bilbao ein neues Gepräge geben und den Ruf einer „Grauen Stadt“ vergessen lassen. Wertvolles aus vergangenen Tagen blieb erhalten und wurde sinnvoll eingebunden. Eine Symbiose. Sie gelang.
Erste Begegnung. Am Flughafen. Hell, scheinbar leicht und luftig. Nicht die Flugzeuge, die Hallen lösen sich vom Boden und schweben; so erscheint die Architektur von Santiago Calatrava (geboren 1951). Seinen Ideen begegnet man vielerorts in der Stadt. In der Gesamtheit gleicht der Airport einem Vogel, der ansetzt, um auf und davon zu fliegen. Und schon bekam er den Beinamen „La Paloma“.
Durch schmale Gassen, breite Straßen, unter blumengeschmückten Balkonen, von denen Gießwasser tröpfelt. Vogelkäfige an den Fenstern. Plätze mit vielen einmündenden Straßen, in denen man sich verirren kann. Brunnen, Denkmäler, Hupen und Kindergeschrei. Bar neben Bar, Restaurants und Cafés. Auf der Plaza Nueva kehre ich ein und mit verschiedenen „Pintxos“ versehen, den appetitlichen, köstlichen Häppchen, wieder aus. Man sitzt im Freien auf dem großräumigen Platz oder unter den Arkaden der umgebenden neoklassizistischen Gebäude, isst, trinkt, ruft sich zu, lacht und lärmt.
Vorbei an prachtvollen Palästen, Schmuckfassaden im Stil des Art déco. Kirchen, in denen es nach Weihrauch duftet. Ein Chor singt zum Namenstag eines Heiligen. Menschen sammeln sich vor den Stufen, klatschen den Rhythmus und singen mit.
Unerwartet überraschen moderne Skulpturen im Stadtbild und der Blick zum „Iberdrola-Turm“, einem der Wahrzeichen Bilbaos. Mit seinen 165 Metern überragt er die Dächer. Auf dem Grundriss eines gleichschenkligen Dreiecks errichtet und mit der Fassade aus Glas ummantelt, ähnelt er einem Obelisken.
Der Weg führt zur Fußgängerbrücke „Puente Zubizuri“, die sich über den Fluss spannt. Fantasievoll, leicht seitlich gewölbt und in strahlendem Weiß. Die grazilen Halteseile wirken wie ein übergeworfenes feingliedriges Netz. Santiago Calatrava entwarf auch die „Weiße Brücke“. – Als blättere man in einem Bildband der Stadt, so ziehen die Eindrücke vorbei.
Zweite Begegnung. Das Guggenheim Museum, von dem nach seiner Eröffnung im Jahr 1997 die Welt sprach. Ein Ausstellungshaus für Kunstwerke der Moderne und selbst ein Kunstwerk. Bau, der das Wunder vom Wandel einer Stadt einleitete und den Anstoß gab für den neuen Aufbruch. Die Soziologen nennen es den Efecto Guggenheim.
Der amerikanische Architekt Frank O. Gehry (geboren 1929), weithin gerühmt und gefragt, konzipierte einen Gebäudekomplex, der an Eleganz und Schwung kaum zu überbieten ist und nun ebenfalls zu den Wahrzeichen der Stadt gehört. Mehr eine vielgestaltige Skulptur denn eine funktionale Architektur. Gehry vereint ockerfarbenen Kalkstein mit Glas, Stahl, Titan und Holz.
Ich gehe, stehe und staune. Hohe Fensterpassagen gleiten an den Außenwänden herunter, um genügend Tageslicht in die Innenräume zu bringen und Ausblicke auf Stadt und Fluss zu gewähren. An der Nordseite des Guggenheim, dicht am Wasser gelegen, wölben sich Flächen; hier harmonisch gefügt, dort aufbrechend, als treibe sie eine innere Kraft in die Höhe. Sie sind mit Titanplatten belegt, die an Fischschuppen erinnern und, je nach dem Einfall des Lichts, changieren. Grau und silbern, bläulich, rötlich, golden. Der Kalkstein, wo er eingesetzt ist, nimmt den metallischen Goldton auf und führt ihn in warmes Gelb über.
Mit dem Eintritt in das gigantische Bauwerk empfängt das „Atrium“, ein weiter himmelhoher Raum und würdiger Vorhof der Künste. Er ist das Zentrum des Hauses. Von ihm zweigen die Galerien ab, die Räume und Säle, die sich auf drei Etagen verteilen. Als stünde man in einer Kathedrale, so erweckt es den Anschein. – Von weit oben fallen schmale kunstvolle Textilstreifen herunter, gewebt, bestickt, dezent abgestimmt in Weiß, Beige und Silber; oder im Zusammenklang von Violett, Silber und Orange. Das Auge verfängt sich darin. Die Collage aus Tuch, Samt und Seide ist ein Farbenrausch in Gold, Grün, Dunkelrot, hellem Kupferton und Ocker, ins Märchenhafte gedrängt durch Pailletten, Kügelchen, Bordüren. Prunk und Pracht. Dieses Kunstwerk nenne ich Tausend-und-eine-Nacht.
Ständige Ausstellungen, wechselnde Ausstellungen. Ein Tag genügt nicht, um die Vielfalt der Kunst im Guggenheim zu ergründen. In die riesenhaften, begehbaren Objekte aus wetterbeständigem Stahl („The Matter of Time“) von Richard Serra (geboren 1939) gehe ich neugierig und festen Schrittes hinein – und komme leicht desorientiert und schwankend wieder heraus.
Beim Gang durch die Räume begegnet man bekannten Namen. Unter ihnen Andy Warhol und die Ikone Monroe, Anselm Kiefer mit den „berühmten Ordern der Nacht“. Und der edle Alabasterblock von Eduardo Chillida (1924–2002) „Lo profundo es el aire“ (Das Tiefe ist die Luft). In die grobe Haut des Steins ist ein Anschnitt gelegt, der die feine Struktur des Materials preisgibt. Tunnelförmige Öffnungen führen in die Tiefe, sind miteinander verbunden und lassen Luft und Licht freies Spiel.
Dritte Begegnung. Sonderausstellung Marc Chagall (die Jahre 1911–1919). Mehr als 80 Werke, in denen ich mich verliere. Da sind die Erinnerungsbilder aus seiner russischen Heimat. Man kann in ihnen lesen wie in einem Buch. Die Jahre in Paris finden ihren Niederschlag. Der „Malerpoet“, wie man ihn nannte, saugte alles auf, was ihn bewegte; und wandelte es, seiner überquellenden Fantasie anheim gegeben, in leuchtende Farben. – Auf vielen der Kompositionen erkennt man Bella Rosenfeld, Chagalls schöne geliebte Frau.
Das Gemälde „Der Geburtstag“ (1915) strahlt in festlicher Frische die Verliebtheit der beiden wider. Ein mit bunten Tüchern ausgeschlagenes Zimmer. Bella bringt Blumen zu Marcs Geburtstag. Sie ist noch im Schwung ihres unerwarteten Eintritts. Der überraschte Geburtstägler Marc schwebt über ihr und ist ihr ganz nahe. – Sie beschreibt eben diesen Augenblick in ihrem Buch „Erste Begegnung“.
Es ist der Morgen des 6. Juli 1915. Bella pflückt Blumen, „ganze Arme voll“. Sie nimmt bunte Tücher, Plätzchen und gebratene Fische, die er gern aß, und eilt zu ihm. Er hat sie nicht erwartet. „ ‚Woher kommst du denn angereist?’ … ‚Rate, was ist heute für ein Tag?’ … ‚Frag mich etwas Leichteres!’ … ‚Heut ist doch dein Geburtstag!’“ Sie schmückt das Zimmer mit den Tüchern. Er stellt „blitzschnell eine Leinwand auf“ und sagt: „‚Rühr dich nicht. Bleibt genau so, wie du jetzt dastehst.’“
Sie fühlt sich plötzlich empor getragen, und auch Marc, so empfindet sie, schwebe mit ihr. „‚Du schmiegst dich hinter meine Ohren und flüsterst mir etwas zu.’ … ‚Kommst du morgen wieder? Ich will noch ein Bild malen. Wir werden weiter fliegen.’“ – Am 25. Juli des Jahres heiraten Marc und Bella.
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