21. Jahrgang | Nummer 16 | 30. Juli 2018

Zynische Gedanken-Treue

von Helge Jürgs

Man kann und sollte eine Zeitung nur bedingt für ihre Leser verantwortlich machen. Auch nicht für jene, die ihre allumfassende Kundigkeit hinsichtlich Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem in Gestalt ungezügelter Leserbrief-Aktivitäten mitzuteilen pflegen.
Keine Ahnung, inwieweit das ND dafür exemplarisch ist, das Gegenteil davon ist es aber ganz sicher nicht, wofür vor allem von altlinker Bescheidwisserei tiefgeprägte Schreiben nahezu täglich Kunde geben.
Jüngst meinte ein nordostdeutscher Leser, seine Betrübnis darüber zur Kenntnis geben zu müssen, dass Kuba derzeit seine Verfassung renoviert und dabei nun auch realitätsbasierte Veränderungen in sein – nach wie vor sozialistisches – Grundgesetz implantiert. Bei ausdrücklichem Bekunden, an der sozialistischen Idee festzuhalten, nimmt man nun Abschied von Dogmen, die vor allem im Wirtschaftsleben ihre praktische Wertlosigkeit und Hemmnisfunktion im untergegangenen Realsozialismus, und in Kuba eben sogar bis heute hinlänglich unter Beweis gestellt hatten.
„Ich finde diese Reform sehr schade“, hat uns also besagter Hanseate wissen lassen. Und ausgeführt: „Nun macht Kuba auch denselben Fehler wie viele andere sozialistische Staaten nach 1990. Es etabliert in seinem sozialistischen Wirtschaftssystem eine privatwirtschaftliche Komponente: Das heißt, es entsteht zum sozialistischen Wirtschaftssystem eine Konkurrenz, die sich aufgrund ihrer Natur und der Natur des Menschen durchsetzen wird. Die Gleichheit, die zwischen den Kubanern besteht, wird es nicht mehr geben und das Gesellschaftssystem wird sich grundlegend verändern; auch wenn man es vielleicht noch sozialistisch nennt. Der Kapitalismus und der Rückschritt wird sich durchsetzen, denn diese beiden Systeme können nicht nebeneinander existieren, wie viele Beispiele in der Geschichte zeigen. Ich finde diese Reform sehr schade, da sie nicht dem sozialistischen Gedanken entspricht.“
In vergleichbaren Fällen ist glühenden Anhängern des (DDR-)Sozialismus und also der bibeltreuen Lehre im seinerzeitig deutsche Westen gern zugerufen worden: „Dann geht doch rüber!“ Zu dieser Konsequenz wiederum haben sich, wie man weiß, nur sehr wenige bereitgefunden; unter den Bedingungen der Marktwirtschaft hat es sich gegen selbige allemal komfortabler kämpfen lassen.
Selbst wenn man unterstellt, dass diese Spezies der Kuba-Freunde wie jener Leserbriefschreiber das Land in der Karibik per touristischer Besuche durchaus persönlich besichtigt haben, ist ihr aber wohl nicht offenbar geworden, dass dort ein – fraglos bewundernswert sympathisches – Volk seit nunmehr über 50 Jahren nahezu ununterbrochen in beträchtlichem Mangel lebt; und dies keineswegs auf irgendwelchen Luxus der westlichen Konsumwelt bezogen sondern auf Grundwerte der Versorgung. Von der – sagen wir mal – streng begrenzten Möglichkeiten einer politischen Behauptung oder gar Betätigung außerhalb der Staatsdoktrin ganz abgesehen.
Nein, Kuba, dass nun aus dem Schatten seiner geschichtlich verdienstvollen Führer, der Castros, tritt, muss, will es seine Lebensfähigkeit weiter bewahren und als Volk einig mit seiner Führung bleiben, für die heute lebenden Menschen mehr tun, als sie auf eine imaginäre kommunistische Zukunft zu vertrösten. Dafür werden dort nun Wege gesucht, die – jedenfalls für dieses Land – neu sind, allem voran sicher die Aktivierung jenes Potentials, das – kontrollierte! – privatwirtschaftliche Initiativen bieten. Dass es einer von diversen Sargnägeln der DDR-Wirtschaft war, in der frühen Honecker-Ära auch noch die funktionierenden und bereichernden Reste der Klein-Privatwirtschaft zu eliminieren, müsste einem Kenner des Realsozialismus, zu denen der Leserbriefschreiber zumindest vermutlich gehört, eigentlich noch in Erinnerung sein. Dessen olympischer Höhe angemessenes Fazit zu Kuba ist davon allerdings unberührt.
Zu bedauern, dass nun Schritte unternommen werden sollen, um das Leben der Menschen auf der Insel spürbar zu verbessern, weil dies doch „nicht dem sozialistischen Gedanken entspricht“, ist im Kern – wiewohl vermutlich unbewusst und also ungewollt – erzzynisch, impliziert es doch den Wunsch, dass dort alles beim Alten bliebe, damit man sich – ohne dort leben zu müssen – weiter am „Gedanken“ und den daraus entspringenden Solidaritätsbekundungen wärmen kann.
Um auf den Ort dieser Bekundungen zurückzukommen, sei es noch einmal ausgesprochen: Auch das ND kann nichts für seine Leser …