von Erhard Crome
Die anarchistischen Graswurzel-Aktivisten der US-amerikanischen Crimethinc-Gruppe meinen in einem neuen Buch mit dem für Uneingeweihte nichtssagenden Titel: „From Democracy to Freedom“, Basisdemokratie bremse die radikalen Kräfte. Die Autoren beschreiben Protestbewegungen der vergangenen Jahre wie Occupy, die spanische M15-Bewegung, in Griechenland und anderswo. Direkte Demokratie werde oft als zentrale politische Praxis der radikalen Linken missverstanden, sei jedoch aus anarchistischer Sicht nicht an sich emanzipatorisch, sondern tendiere dazu, die Fehler der repräsentativen Demokratie zu wiederholen. So heißt es aus Barcelona, sobald die Zahl der Teilnehmer von Hunderten auf Tausende anstieg, schossen Kommissionen und Unterkommissionen wie Pilze aus dem Boden, es wurde gestritten, ob während einer Demonstration Graffiti gesprüht werden dürften oder ob dies gegen das vereinbarte Gewaltverbot verstoße, und am Ende hätten die „bürgerlich-liberalen Aktivisten“ die Generalversammlungen instrumentalisiert, um radikale Positionen zu blockieren.
Einerseits kehrt hier ein altes theoretisches Problem zurück. Bereits Michail Bakunin, ein Stammvater des Anarchismus, hatte in Karl Marx einen „autoritären Staatsfetischisten“ gesehen, schrieb kürzlich Steffen Wasko im Magazin Berliner Debatte Initial, Heft 2/2018, und forderte die basisdemokratische Selbstorganisation des Proletariats und die Negation des Staates. Andererseits ist neu, dass die Crimethinc-Leute nun auch die basisdemokratische Selbstorganisation als bürgerliche Form inkriminieren.
Als in Europa die Gemäuer des Realsozialismus zu Staub zerfielen, als die Sozialdemokratie aufhörte, „Dritte Wege“ gehen zu wollen, und sich dem neoliberalen „Konsens von Washington“ unterordnete, da erreichten die Verhältnisse im Süden Amerikas ein neues Maß der Unerträglichkeit. Die Militärdiktaturen waren gestürzt und die linken politischen und sozialen Bewegungen nahmen einen Aufschwung. So entstand die Idee des Weltsozialforums, um unter den veränderten Bedingungen in der Welt des 21. Jahrhunderts die internationale Solidarität neu zu begründen und ein Kontrastprogramm zum Weltwirtschaftsforum von Davos zu schaffen – als Forum von „unten“ gegen das von „oben“, als das des „Südens“ gegen den „Norden“. Die vielen verschiedenen Gruppen und Organisationen, die zuvor kaum Verbindung zueinander hatten, fanden einen gemeinsamen Raum zum Dialog.
Zur Geschichte gehören der Aufstand der Zapatistas in Chiapas (Mexiko) seit Mitte der 1990er Jahre, die Proteste gegen die Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle (USA) 1999 und gegen den G8-Gipfel in Genua 2001. Das Weltsozialforum, seit 2001 zunächst in Porto Alegre (Brasilien), war dann der Versuch, den vielen Betroffenen Stimme zu geben und sie zusammenzuführen: Gewerkschafter, Frauenorganisationen, Umweltschützer, Menschenrechtsgruppen, Schwule und Lesben, Verbraucherorganisationen, Bauernverbände, Entwicklungshelfer, kirchliche Gruppen, Arbeitsloseninitiativen und viele andere mehr – sie alle sahen in der WTO eine undemokratische Institution, die sich gesellschaftlicher Kontrolle entzieht, nationale Schutzstandards unterminiert und die Interessen der transnationalen Großkonzerne verfolgt. Auch die jährlich stattfindenden G7-, dann G8-Gipfel (unter Einbeziehung Russlands) wurden bald als selbst ernanntes und nicht legitimiertes Direktorium verstanden, das der Welt seine neoliberalen Globalisierungsrezepte zu oktroyieren bestrebt ist. Proteste gegen diese Treffen verstanden sich als Ausdruck des Willens der Zivilgesellschaft, dass gute Arbeit und Gerechtigkeit höher stehen müssen als der Gewinn der Reichen und Mächtigen.
Die Weltsozialforen beruhten auf der Idee des „offenen Raumes“, den jeder betreten kann, der bestimmte Grundpositionen der Globalisierungskritik und Gerechtigkeit sowie der Verteidigung des Friedens teilt. Das machte eine zuvor ungekannte Breite der Sozialforumsbewegung möglich. Dazu gehörte auch die Regel, dass in diesem Raum keine Beschlüsse gefasst werden sollen. Dagegen wurde bald eingewandt, dass diese Konstruktion gezielte Handlungsoptionen verhindere. In Lateinamerika ging es konkret um die Unterstützung der linken Präsidenten und Regierungen, wozu Hugo Chávez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien, Lula in Brasilien und andere rechneten. Streit darüber sollte praktisch vermieden werden: Beschlüsse „des Forums“ wurden nicht gefasst, wohl aber von der „Versammlung der sozialen Bewegungen“ neben dem Forum – immer im Konsens; in Zweifelsfalle wurde so lange diskutiert und am Text der Erklärungen gefeilt, bis niemand mehr widersprach.
Das Argument, die Sozialforen würden nur Gelegenheit zum Reden geben, während gehandelt werden müsse, gab es bereits Anfang der 2000er Jahre. Das Neue, das zunächst in der Breite der Bewegung und der Vielfalt der Debatten lag, der offene, nicht regulierte Zugang zum Raum der Foren, hatte bald eine Überrepräsentanz zur Folge, einerseits von trotzkistischen und ähnlichen „aktivistischen“ Gruppen, die unrealistische Forderungen stellen und sich selbst unverblümt als Avantgarde empfehlen – ihnen ist die breite Bewegung eigentlich egal, sie wollen nur an der Spitze, welcher auch immer, stehen. Andererseits wurden viele unpolitische Nichtregierungsorganisationen und -gruppen angezogen, die bestimmte konkrete Projekte verfolgen, in Bezug auf Macht und ökonomische Interessen aber naiv sind und Beschlüsse zu verhindern bestrebt sind. Letztlich ist die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten innerhalb basisdemokratischer Foren und anderer Organisationsformen grundsätzlich unbeantwortet, kann stets nur konkret unter Bezug auf konkrete Aktionen oder Maßnahmen gelöst werden.
Politisch bedeutet dies, dass Crimethinc hinter die Weisheit der Sozialforen zurück will. Das mündet aber wieder in die alte Logik des ideologischen Streits, des Sektenwesens und der avantgardistischen Selbstermächtigung, die die Linken seit Marx‘ und Bakunins Zeiten stets auszeichnete: Da „die Massen“ verstockt und reaktionär seien, müsse die Avantgarde an deren Stelle und für sie handeln. Es war dies eigentlich eine Position, von der sich die Linken in der auslaufenden DDR bereits 1989 verabschiedet hatten: Eine Avantgarde kann nicht für „die Klasse“ der Arbeitenden, wer immer das ist, handeln, sondern das müssen diese selbst tun. Anders gesagt: Politische Avantgarden (im Unterschied zu künstlerischen) gibt es nicht. Sie sind stets Ausdruck in Kleingruppen halluzinierter Selbstermächtigungen
Das führt zu einem Grundproblem der derzeitigen Linken. Robert J. De Lapuente hat kürzlich ein Buch veröffentlicht, das den Titel trägt: „Rechts gewinnt, weil Links versagt. Schlammschlachten, Selbstzerfleischung und rechte Propaganda“. Er betont, das Problem sei nicht die Linkspartei, sondern seien jene Linken, die immer wieder in ihrem Umfeld auftauchen und alles besser zu wissen vermeinen. „Wenn man in Deutschland an Linke denkt, kommen einem Krawalle wie in Hamburg 2017 oder in Frankfurt 2015 in den Sinn, freudlose Debatten, Humorlosigkeit, dazu Rechthaberei und eine Rabulistik, die im Leben normaler Bürger nun wirklich kaum Platz findet. Diese linke Avantgarde ist der Garant dafür, dass linke Politik keine Alternative zum Neofeudalismus und zum aktuellen Rechtsruck wird.“
Das aber ist kein deutsches Problem. Der Journalist Ferdinand Otto beschrieb es im Dezember 2016 in Österreich und fand Analogien zu Großbritannien, im Abstieg der Linken (im weitesten Sinne) auch dort: „Zusammengefasst lief das etwa so ab: Während die Reallöhne stagnierten, ein neuer Niedriglohnsektor entstand und Arbeiter auf einmal in den globalen Konkurrenzdruck gerieten, stritt sich die Avantgarde darum, ob das jetzt StudentInnen heißt oder Studierende, warum man lieber ProfessX sagen solle, und kämpfte für eine dritte Toilettentüre neben Männern und Frauen. Der Kampf für die Minderheiten und deren Rechte hatte begonnen. Der Kampf für die Mehrheit, die Arbeiter und Angestellten, schien uninteressant geworden. Das linke Ringen um eine politisch korrekte Sprache ist in mancherlei Hinsicht ein gutes Beispiel für die Entfremdung mit der Arbeiterklasse. Denn für den urbanen Weltbürger wurde es schwer vorstellbar, dass Menschen in Sprache Heimat finden – und daher jedes Rütteln daran als direkten Angriff auf ihre Lebensweise. So vertiefte sich die wechselseitige Verachtung und Polarisierung. Die Flüchtlingskrise hat die Entfremdung erneut verstärkt. Die linke Avantgarde hat einen neuen entrechteten Schützling.“
Tatsächlich aber hält sich dieser Schutz in engen Grenzen, muss die real-existierende Linke heute kraftlos der Verschärfung des „Schutzes der Außengrenze“ der EU zuschauen. Es ertrinken wieder mehr Flüchtlinge. Währenddessen besteht die linke Sprachpolizei auf „Geflüchteten“ statt „Flüchtlinge“.
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