von Heino Bosselmann
Das die gesamte Politik dominierende Problem, wie mit den Flüchtenden umzugehen wäre, lässt sich auf die Frage reduzieren, wer denn nun kommen darf. Tatsächlich dreht sich um diese Frage alles, zumal – mindestens aus besonders elenden Regionen – nahezu jeder kommen will und, ginge es nach Grünen und Linken, jeder kommen darf oder vielleicht gar kommen soll.
Zunächst muss klar sein, dass dieses Problem eben tatsächlich ein Problem ist, und es erst recht entzündlich wird, knüpft man an klassische philosophische Argumentationen an. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. Juli 2018 folgt der an der Theologischen Hochschule lehrende Professor Franziskus von Heereman dabei konsequent Kants Bestimmung des Begriffes der Würde: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erheben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“
Dies, so meint der Professor, ist unser ethisches Fundament. Und wir wissen wieder: Nie soll der Mensch bloßes Mittel sein, ist er sich doch selbst letzter Zweck, also Selbstzweck, insofern er frei und vernünftig zu handeln vermag, wie es die zweite Formel des kategorischen Imperativs fasst.
Wem kommt Würde zu? Allen Menschen. Zum einzigen Kriterium der Menschenwürde gehört nur „die biologische Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht“, zitiert Heereman seinen Kollegen Robert Spaemann.
Erodiere dieser Glaube an „die Sakralität der Person“, so seien wir alle in Gefahr. Die „Gretchenfrage unserer Demokratie“ laute also: „Hältst du fest an der Würde jedes Einzelnen?“ Daran hänge alles. Verneinten wir, drohe die Barbarei.
Ja, dem ist so! Wir nicken ernst.
Wo ist nun das Problem?
Vielleicht liegt es darin, dass hierzulande nicht nur längst nicht alle Kantianer oder auch nur Verfechter der hehren Werte der Aufklärung sind, sondern dass übers Mittelmeer oder andere Routen eben auch nicht allzu viele Kantianer oder Aufklärer kommen. Ist Franz Kafkas aufschlussreiche Parabel „Ein altes Blatt“ schon nie in Lesewerke aufgenommen worden, so könnte sie vielleicht in Sozialkundelehrbüchern als Diskussionsgrundlage dienen. Eine ganz gefährliche Sache. So gefährlich wie der aktuelle Verlauf. Manche Gedanken werden erst im Zuge intellektueller Provokation klar.
Hören wir den Begriff der Würde – den die Philosophie, namentlich Kant, sehr aufwendig und sorgsam anthropologisch und ethisch herleitet, die Politik indessen nur pauschal voraussetzt wie so viele große Worte –, stimmen wir in der Regel viel zu pauschal und reflexartig zu. In friedfertigen und satten Zeiten nicken wir zu schnell, und bisweilen nicken wir dabei ein. Wir sollten uns jetzt jedoch genauer fragen, wie wir mit Zuwanderern umgehen, denen eben dieses aufklärerische Konstrukt der Würde wegen ihres religiösen Hintergrundes nicht nur nichts sagt, sondern die „Würde“ in vielen Fällen überhaupt nur jenen zubilligen, die genau ihres eigenen Glaubens sind? Ein Sunnit etwa empfindet ja oft genug schon einen Schiiten als würdelos und kann in ihm nicht mal einen Glaubensbruder erkennen.
Als Verfechter der Aufklärung kommt für uns selbstverständlich auch jenen Würde zu, die diese – im Sinne unseres philosophischen Verständnisses – ablehnen. Wie aber verhalten wir uns zu denen? Die Linke hat auch dafür eine reflexartige Antwort: Tolerant! Alles andere wäre ja rassistisch! – Aha. Hier genau liegt das Problem, das Dilemma: Sehen wir unsere Identität in den Grundvereinbarungen der Aufklärung, wie sie sich etwa in den Menschenrechten widerspiegeln, dann gehen wir von der Würde jedes Einzelnen aus. Das ist ein Ergebnis unseres abendländischen Denkens, das im Zuge rabiater Kämpfe entstand und uns einen gewissen Frieden zu verheißen schien, wenn schon Kants „Ewiger Friede“ nie einsetzte und nie einsetzen kann, ebenso wenig wie der Wolf mit dem Lamm weiden wird.
Europas Geschichte wird sich daran entscheiden, wie es mit voraufklärerischen Geflüchteten umgeht und wie sie diese in eigene Grundvereinbarungen einzubeziehen vermag. Wesentlich dafür wird sein, welchem Selbstverständnis der Begriff der Toleranz folgt. Ebenso wie Würde ist Toleranz zunächst nur ein Wort. Man kläre die genauen Zuschreibungen. Vermutlich kommt man dabei nicht umhin, sich mit der idealistischen Erblast der Aufklärung zu befassen, also mit ihrer durchaus problematischen Genetik.
Schwierig, aber dringlich notwendig.
Und hoffentlich nicht neue rabiate Kämpfe auslösend, gegen die dann nur noch Thomas Hobbes aufzurufen wäre. Auch der war Aufklärer – mit interessanten, aber schwierigen Erben, darunter Carl Schmitt. Und wo Carl Schmitt aufgerufen ist, schrillen links die Alarmsirenen, obwohl die Linke an der Macht stets schmittianisch verfuhr.
Schlagwörter: Heino Bosselmann, Identität, Würde