von Manfred Orlick
Tschingis Aitmatow (1928–2008), der große kirgisische Autor, war einer der bekanntesten Schriftsteller der Sowjetunion, ein Schriftsteller von Weltgeltung. Viele Schüler, die irgendwann zu DDR-Zeiten die Schulbank gedrückt haben, kennen seine Erzählung „Djamila“ (1958). Und in den späten achtziger Jahren sah man in seinem gesellschaftskritischen Roman „Die Richtstatt“ ein literarisches Signal der geistigen Perestroika. Im Nachwort der damaligen Reclam-Ausgabe (1988) hieß es: „,Die Richtstatt‘ wird […] noch lange Zündstoff für Diskussionen bieten.“
Nach der politischen Wende 1989/90 war es in (Ost)Deutschland zunächst recht ruhig geworden um Aitmatow. Mit seinem letzten Roman „Der Schneeleopard“ feierte er jedoch während der Leipziger Buchmesse 2007 ein Comeback bei seiner treuen Leserschaft. Ein Jahr später verstarb der äußerst populäre Schriftsteller.
Nun hat sich Irmtraud Gutschke, Literaturredakteurin des neuen deutschlands, auf eine Reise in Aitmatows Welt begeben. In ihrem Reisebericht geht die Autorin in gewisser Weise chronologisch vor – von den frühen Erzählungen bis zum letzten Roman. Zugleich sind die sieben Kapitel einzelnen Motiven und Themen gewidmet, die für Aitmatows Weltsicht charakteristisch sind.
Gutschke, die 1976 an der Humboldt-Universität Berlin zum Thema „Mensch und Natur im Schaffen Tschingis Aitmatows“ promoviert hatte, war noch junge Journalistin, als sie im Jahr darauf die Gelegenheit hatte, nach Kirgisien zu reisen und die Handlungsorte von Aitmatows frühen Werken zu besichtigen. Dabei lernte sie auch die Einheimischen kennen, die stolz auf „ihren Dichter“ waren. In nur einem Jahrzehnt hatten sich in der kirgisischen Literatur Gattungen und Genres herausgebildet, die sich in den europäischen Literaturen über Jahrhunderte entwickelt hatten. Da grenzte es schon an Wunder, dass Aitmatow bereits 1958 zu Weltruhm gelangte.
1984 war Gutschke zu Gast in Aitmatows Familie und begegnete einem Schriftsteller, dessen „Glück (und seine Qual) beim Schreiben“ sich nicht einfach aus Einfällen, sondern „aus sinnhaften Zusammenhängen“ ungeplant ohne sein Zutun ergab. Mithilfe jahrtausendalter Legenden und Mythen gelang es ihm, die Geschichte Kirgisiens – das sich heute, als unabhängiger Staat, Kirgisstan nennt – künstlerisch verdichtet in sein Werk einzubringen. Aitmatow zu lesen, bedeutete für Gutschke immer, über die eigene Wirklichkeit nachzudenken und hinausgehoben zu werden. Der Schriftsteller selbst sah den Menschen als „Schöpfer seines eigenen Verhältnisses zur Welt“.
Durch Gutschkes Reisen erfährt der Leser außerliterarische Hintergründe zu den Werken Aitmatows. Er kann in die schöpferische Gedankenwelt des Schriftstellers eintauchen, der seine Umgebung immer mit den Augen eines „gewöhnlichen“ Menschen wahrgenommen hat. In seinen hochemotionalen Geschichten spiegeln sich all unsere menschlichen Konflikte wider. Und wer aufmerksam seine Romane und Geschichten liest, bemerkt auch, welch bindende Rolle die so verletzliche Natur in seinem Werk stets spielt.
Mehrfach widmet sich Gutschke dem Thema „Aitmatow und sein DDR-Lesepublikum“, das ihn verehrte, so dass seine Bücher bisweilen zur „Bückware“ wurden. Besonders in den 80er Jahren machten seine Romane „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ (1982, später unter dem Titel „Ein Tag länger als ein Leben“ erschienen) und „Die Richtstatt“ (auch „Der Richtplatz“, 1987) regelrecht Furore. Darin sprach er die ganz großen Menschheitsfragen an. Außerdem waren diese Werke die literarische Begleitung der ideologischen Öffnungsbestrebungen, gegen die sich die DDR-Führung allerdings wehrte. Ein mehrseitiger Bildteil mit zahlreichen Aitmatow-Abbildungen komplettiert diesen außergewöhnlichen Reisebericht, der zum 10. Todestag des Schriftstellers erschienen ist und überdies als angemessene Würdigung zum 90. Geburtstag Aitmatows am 12. Dezember dieses Jahres gelten kann.
Irmtraud Gutschke: „Das Versprechen der Kraniche – Reisen in Aitmatows Welt“. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2018, 200 Seiten, 16,00 Euro.
Schlagwörter: Irmtraud Gutschke, Manfred Orlick, Tschingis Aitmatow