von Klaus Joachim Herrmann
Der Clown im Zirkus am Moskauer Zwetnoi Boulevard jagt den kleinen Lichtkreis in der Manege. Er spritzt mit Wasser, löscht ihn. Dann ist das Licht doch wieder da. Bis es in einen Hut gedrängt und dieser zart leuchtend unter Beifall aus der Manege getragen wird. Dieser Auftritt des Italieners David Larible im aktuellen Programm „Monte Carlo-Moskau“ hätte Juri Nikulin, dem großen Schauspieler, legendären Clown und langjährigen Zirkusdirektor, gefallen können. Doch er ist nur noch Denkmal vor dem Haus. Dort öffnet er den Wagenschlag eines Cabriolets, in dem seine Gäste für ein Foto mit dem bis heute hoch Verehrten Platz nehmen können. In den Nachthimmel schauen sollte, wem die Reise in die russische Hauptstadt zu weit, zu teuer, zu beschwerlich oder gar zu unheimlich erscheint. Irgendwo am Firmament glitzert der Hauptgürtelasteroid 4434 – sein Name: Juri Wladimirowitsch Nikulin.
Doch die knapp drei Stunden Flugreise können sich lohnen. Aeroflot-Stewardessen mit einem Tüchlein um den Hals, dazu passender Lippenstift, ein Lächeln und schwarz-orange-gestreifte Georgsbändchen. Das macht der 9. Mai mit seiner Siegesfeier. Wladimir Putin kam zwei Tage zuvor das vierte Mal ins höchste Staatsamt. Beim ersten Mal mochte ich Silvester 1999 die Ankündigung des Rücktritts seines Vorgängers Boris Jelzin kaum glauben. Der Neue hielt dann schon die Neujahrsansprache. Die Wilden Neunziger mit Erschütterungen und Niedergang bis an den Abgrund waren vorbei. Es begann das Jahr 2000. Auch das macht Rechnungen leicht.
Moskau ist teuer. Das GUM am Roten Platz, das lange nur äußerlich ein verlockendes Kaufhaus war, hat drinnen mit internationalen Modemarken auch die Preise aufgerüstet. Das ZUM, das hinter dem schmucken Bolschoi Theater gelegene Zentrale Universale Warenhaus, bietet im Erdgeschoss Türsteher und eine unübersehbare Landschaft von Ständen mit Düften von Weltruf. Mehr als einen Probestreifen mag sich der flüchtige Normalgast da nicht leisten. Das legendäre „Detski Mir“, das Kinderkaufhaus, führt Weltmarken und weniger Russisches. Früher war es deutlich umgekehrt. Die Lubjanka wurde optisch aufgebessert. Dort erhebt sich in der Mitte des Rondells vor dem Gebäude des Inlandsgeheimdienstes FSB statt des 1991 gestürzten Denkmals des Tscheka-Gründers Feliks Dserschinski inzwischen eine Säule aus vier schwarzen und einem grauen Quader. Letzteres trägt einen goldenen fünfzackigen Stern und der Sockel die goldene Aufschrift „POMNIM“. Dieses „Wir erinnern uns“ kann je nach Sicht, Überzeugung und politischer Ausrichtung von Massenterror, Folter und tausendfachem Mord bis zu Heldentaten reichen.
Allein in Moskau gedachten am 9. Mai mit dem Marsch des „Unsterblichen Regiments“ eine Million Menschen mit Bildern ihrer im Krieg gefallenen Angehörigen unter roten Fahnen mit Hammer und Sichel auf der Twerskaja Straße vom Belorussischen Bahnhof bis zum Roten Platz des Sieges und der Opfer im Zweiten Weltkrieg. Familien stellen sich zum Foto. Jung und Alt tragen Georgsbändchen als Zeichen für Tapferkeit und zunehmend auch eine national-patriotische Haltung. Sie feiern in der Kolonne mit immer weiter gegebenen Hurra-Rufen nach Art einer Welle den Sieg vor 73. Jahren. Das „Hurra!“ wird zuweilen von Lautsprechern mit historischem Scheppern auf dem Fensterbrett von Privatwohnungen ausgelöst.
Für den Triumph steht nicht wenigen Russen Josef Stalin. Doch der Streit um den sowjetischen Herrscher, der Millionen Bürger des Landes zu Volksfeinden erklären, verurteilen, deportieren, in den Gulag schaffen oder erschießen ließ, dauert an. Wie einst werden solche Diskussionen bis in die Küchen getragen, den traditionellen Ort höchster Gastlichkeit, Vertrautheit und offener Worte. Wolodja Rumjanzew, ein Geschäftsmann Mitte 30, mag sich berührter Anteilnahme an dem Gedenkmarsch nicht anschließen. „Es ist falsch, dass bei Putin alle zu Patrioten werden“, meint er. „Es werden auch Bilder von Leuten gezeigt, die nicht an der Front gekämpft haben. Im Hinterland haben sie in Stalins Auftrag Menschen gejagt und ermordet.“ Wer aus Gefangenschaft geflohen war, musste mit Anklage, Verschleppung in den Gulag oder Schlimmerem rechnen. „Jetzt sollen alle gleich sein?“
Die Hauptstadt ist modern geworden. Mit einem runden Dutzend Wolkenkratzern am Ufer der Moskwa überragt das Geschäftszentrum „Moskau-City“ die Stadt mit ihren inzwischen wohl schon über 14 Millionen Einwohnern. „Federazija“, der Föderationsturm, ist mit 373,70 Metern Höhe im Wortsinne Spitze in Europa. Auf einer Fläche von vier Millionen Quadratmetern entstehen Geschäfte, Hotels und Büros, in denen bis zu 300.000 Menschen wohnen und arbeiten sollen. Zu sehen ist dieses Moskauer Manhattan bereits im Landeanflug auf den Flughafen Scheremetjewo. Besser aber noch von den Sperlingsbergen. Zu Sowjetzeiten hießen sie Leninberge. Dort ward den Delegationen des DDR-Brudervolkes stets eine Residenz bereitet. Doch das ist lange vorbei.
Hinüber zum anderen Ufer wird an einer Seilbahn über die Moskwa gebaut. Dort steht das für die Fußball-Weltmeisterschaft erneuerte Luschniki-Sportstadion. Es bietet im Haupteingang ein Eingangssystem nach Drehtürart – Bitte immer nur eine Person! – und als wäre nichts geschehen ein ziemlich gewaltiges Denkmal Lenins, des Staatsgründers der untergegangenen Union. Wladimir Iljitsch hält bald her als Hintergrund für Erinnerungsfotos der Fans. Nahe der Metro „Sportiwnaja“ können sie sich ihre Akkreditierungen ausstellen lassen. Wer im Besitz einer Eintrittskarte ist, so heißt es, der reist kostenlos zu den Spielstätten in andere Städte. Russlands Wege sind bekanntlich weit.
Auch in der Hauptstadt. Dort donnern neben den großen SUV, den kleineren bunten Autos und den unzähligen gelben Taxis die Biker mit schweren Maschinen über den Gartenring und die Prospekte. Mit Donnerhall. Gern präsentieren sie sich auf den Sperlingsbergen. Eine Truppe gereifter Herren in martialischer Lederkluft und mit Vollbart. Ihr Problem ist nicht die Miliz, kein Schlagloch oder gar ein fehlender Deckel auf der Kanalisation. Vielmehr versuchen sich die Versicherungen um Verträge mit dieser Klientel zu drücken – wie deutsche Politiker vor den „Nachtwölfen“. Die gelten als Putins Getreue und machten ihre Gedenktour auch in diesem 73. Jahr zu Gräbern der im Großen Vaterländischen Krieg gefallenen Sowjetsoldaten in Europa.
Auffällig wurden diese Biker ebenfalls auf dem Weg zur Krim. Die Obschaja Gasjeta missbilligte, dass eine Gruppe „Nachtwölfe“ auf der neuen Brücke Verkehrsregeln missachtet habe – für ein Selfie stoppten sie und stiegen mal eben vom Zweirad. Leitwolf Alexandr Saldastanow murrte, er könne nicht auf jeden einzeln aufpassen. Sein Rudel war jedoch in prominenter Gesellschaft. Präsident Putin hatte bei der Eröffnung als Lkw-Lenker keinen Sicherheitsgurt angelegt. Ein Abgeordneter des Lipezker Gebietsparlaments setzte die zuständigen Behörden darauf an. Als gäbe es keine anderen Krim-Probleme.
Auch wer die Stadt in früherer Zeit durchlaufen und befahren hat, kennt sie nach Pausen kaum wieder. Metrostationen kommen hinzu. Nicht zwei oder drei, sondern ganze Linien. Auf den Karten ist eine zweite Ringbahn „im Bau“. An den Eingängen wird kontrolliert, doch nicht ganz so penibel wie am Flughafen. In die Durchgänge sind Bettler nach den Feiertagen vereinzelt zurückgekehrt. Das uralte Mütterchen in Schwarz kniet dort, beugt sich tief, bekreuzigt sich nach Art der Rechtgläubigen und schlägt mit der Hand auf den Boden. Sie bleibt unbeachtet. Doch die ruppige Hast und grimmige Verschlossenheit früherer Jahre sind gewichen. Die schwangere Frau bekommt einen Platz, der Mensch mit dem Koffer erhält Vortritt. Wer nicht aufschaut, blickt zumeist runter. Statt in ein Buch auf ein Display.
Gästen mit Smartphone ist der Kauf einer SIM-Karte zu raten. Russland ist ziemlich fern von der EU. Das Roaming hat deftigen Preis. Nicht so die Prepaidkarte. Wohlfeile 300 Rubel, also rund vier Euro, für zwei Wochen mit 500 Anrufminuten und 15 Gigabyte Datenvolumen in der komfortablen Geschwindigkeit von 4G. In dem Riesennetz der Metro mit den tiefsten Tunneln der Welt und mehr als 200 Stationen gibt es Wifi kostenlos. Auch in der neuen Stadtbahn, die um die Stadt führt. Überall ist Internet.
Wer länger nicht mehr durch die Stadt geschlendert ist, kann staunen. Ein Schritt auf den Zebrastreifen, dann rasch zurück. „Du kannst gehen“, versichert meine Begleiterin. „Es ist nicht mehr wie früher.“ Tatsächlich halten die Autos an. Ob Schwarz ob bunt, ob groß ob klein. Die goldene Regel aus den Neunzigern, Schwarz vor Bunt und Groß vor Klein, gelte schon lange nicht mehr, lacht Vika. Auch gehen die Moskauer nicht mehr lieber im Rudel bei Rot statt alleine bei Grün. Regeln scheinen sich doch durchzusetzen.
Schlagwörter: Großer Vaterländischer Krieg, GUM, Klaus Joachim Herrmann, Metro, Moskau, Wladimir Putin