21. Jahrgang | Nummer 14 | 2. Juli 2018

Film ab

von Clemens Fischer

Beim Abspann mag manchen Zuschauer eine gewisse Erleichterung ergreifen, dass „Vom Ende einer Geschichte“ das eigene nunmehr endlich erreicht hat. Denn bereits nach einer halben Stunde kann man sich durchaus die Frage stellen: „Ist das jetzt alles?“ Und harrt dann doch bis zum Schluss aus – mit leicht trotziger Erwartung: „Da muss doch noch etwas kommen!“ Schlussendlich aber ist man eines Schlechteren belehrt: Das war’s tatsächlich – alle im Hinblick auf den Protagonisten, die drei mit ihm interagierenden Frauen (Ex-Freundin, Ex-Gattin und Tochter) sowie den durch frühen Suizid entleibten Freund halbwegs interessanten Fragen, sofern sie überhaupt gestellt werden, bleiben offen. Ob das in Julian Barnes’ dem Film zugrundeliegenden Roman von 2011 ebenso der Fall ist, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten. Für das Buch immerhin gab es mit dem Brooker Prize die renommierteste Literaturauszeichnung Großbritanniens. Wer Netflix-Abonnent ist, kann sich im Übrigen überzeugen, dass Regisseur Ritesh Batra auch schon eine reifere Leistung abgeliefert hat: „Unsere Seelen bei Nacht“ mit Jane Fonda und Robert Redford als greisem Paar, das in berührender Weise gemeinsam der Alterseinsamkeit der Alleinstehenden oder -gelassenen trotzt.
„Vom Ende einer Geschichte“, Regie: Ritesh Batra. Derzeit in den Kinos.

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Dass in Großbritannien hantierende Filmkünstler Komödie mit skurrilem Einschlag brillant können, ist hinlänglich bekannt – und zwar seit Filme noch schwarz-weiß gedreht wurden: „Noblesse oblige“ von 1949 (mit dem grandiosen – späteren Sir – Alec Guiness in achtfacher Besetzung) kann heute noch als Maßstab gelten. Dass Drehbuchschreiber und Regisseure dabei auch den Schattenseiten des Lebens zwerchfellerschütternde Komik abzugewinnen wissen, haben in jüngerer Vergangenheit Streifen wie „Ganz oder gar nicht“ (1997) sowie „Kalendergirls“ (2003) nachdrücklich bestätigt. Wenn der geschätzte Kollege Knut Elstermann nun allerdings dem jüngst angelaufenen Opus „Swimming with Men“ bescheinigt: „Der liebenswerte Film hat das Zeug ein Klassiker zu werden, wie einst ‚Ganz oder gar nicht‘“, dann liegt der Kollege zumindest mit seinem Vergleich ziemlich daneben: „Swimming with Men“ hatte während der gesamten Vorstellung, der der Rezensent beiwohnte, nicht einen einzigen Lacher. Der melancholische Grundton des Streifens ließ einfach keinen zu. Obwohl der Plot merklich Schwierigkeiten hat, erkennbar in Fahrt zu kommen, lohnt es, bis zum dann wirklich furiosen Finale auszuharren.
„Swimming with Men“, Regie: Oliver Parker. Derzeit in den Kinos.

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Die Liebhaber jener besonders feinfühligen, atmosphärisch dichten und psychologisch ebenso an- wie aufrührenden Filme über die unterschiedlichsten Konstellationen zwischenmenschlicher Beziehungen, für die das französische Kino zu Recht berühmt ist – ob es sich nun um die Liebe zwischen Frau und Mann handelt („Birnenkuchen mit Lavendel“, 2015), das Schicksal einer Mutter, die ihr Kind getötet hat („So viele Jahre liebe ich dich“, 2008) oder das Hereinfegen einer Heranwachsenden in das Leben eines zurückgezogenen Alten („Der Schmetterling“, 2002) –, kommen auch bei diesem Streifen auf ihre Kosten.
Die Konstellation hier: ein alternder, am Zeitgeist verbitterter, zutiefst zynischer Universitätsprofessor, der sich in machohaften und rassistischen Ausfällen gegen seine Studierenden gefällt, wird durch selbst verschuldete Umstände gezwungen, einer Studentin algerischer Herkunft aus den Banlieues, die Anwältin werden will, durch Einzelcoaching eine Chance im landesweiten jährlichen prestigeträchtigen Rhetorikwettbewerb französischer Universitäten zu verschaffen.
Insgesamt eine bravouröse Leistung zweier herausragender Schauspieler – Camélia Jordana (Studentin) und Daniel Auteuil (Professor).
Allerdings hat der Streifen auch noch einen Subtext, über den etwas länger nachzudenken lohnen könnte: Des Professors erste und zugleich seine grundlegende zielgebende Botschaft an die Studentin lautet: „Es geht darum, immer recht zu behalten. […] Scheiß auf die Wahrheit.“ Und entsprechend coacht er sie – mit Hilfe von Schopenhauers 38 Finessen aus dessen Kompendium „Die Kunst, Recht zu behalten“.
Darunter sind solche ausgemachten Falschspielertricks wie Homonymie – „die aufgestellte Behauptung auch auf das auszudehnen, was außer dem gleichen Wort wenig oder nichts mit der in Rede stehenden Sache gemein hat“ –, fallacia non causae ut causae (Täuschung durch Annahme des Nicht-Grundes als Grund)“, so man selbst „viel Unverschämtheit und eine gute Stimme hat“, oder den „Gegner zum Zorn reizen: denn im Zorn ist er außer Stand, richtig zu urteilen und seinen Vorteil wahrzunehmen“.
Als überaus gelehrige Schülerin leitet die Studentin beim Rhetorikwettstreit einen ihrer Disputationsbeiträge dann folgendermaßen ein: „Ich schwöre, die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit – auch wenn ich lügen werde wie gedruckt.“
Sie erreicht das landesweite Finale.
In der Schlusssequenz des Filmes begegnet dem Zuschauer eine Anwältin, die einen jugendlichen Straftäter mit Migrationshintergrund, der zum wiederholten Male und in diesem Fall wegen bewaffneten Raubes angeklagt werden soll, der eine weibliche Rechtsvertretung jedoch ablehnt – er wolle jemanden „mit Eiern in der Hose“ –, mit folgender Alternative konfrontiert: Für seinen Überfall gebe es Zeugen. Er könne wählen: „Soll ich dich wegen eines Verfahrensfehlers rausholen oder willst du zehn Jahre einfahren?“
Scheiß also nicht nur auf die Wahrheit, sondern auch auf das Recht?
„Die brillante Mademoiselle Neïla“, Regie: Yvan Attal. Derzeit in den Kinos.