21. Jahrgang | Nummer 11 | 21. Mai 2018

Bewaffnete Milizen in den USA

von Arndt Peltner, Oakland

Im August 2017 marschierten in Charlottesville, Virginia, hunderte Menschen durch die Kleinstadt. Sie demonstrierten unter dem Motto „Unite the Right“. Mitglieder von rassistischen, anti-muslimischen und Neo-Nazi-Gruppen waren zusammengekommen, um ihre Stärke zu demonstrieren. Dabei lieferten sie sich brutale Straßenkämpfe mit Gegendemonstranten.
Was bei den Fernsehbildern auffiel, waren marschierende Soldaten in Kampfanzügen, die sich zwischen die Kontrahenten stellten. Gleich mehrere Militia Groups, bewaffnete Milizen, waren nach Charlottesville gekommen, um, wie sie sagten, das Grundrecht eines Jeden auf Meinungsfreiheit zu garantieren und zu schützen – auch das von erklärten Rassisten und Neo-Nazis.
Charlottesville war zu einem Treffpunkt rechtsextremer Gruppierungen geworden, die zeigen wollten, dass in Amerika eine neue Zeit angebrochen war. Der Wahlkampf von Donald Trump 2016 hatte die amerikanische Gesellschaft polarisiert. Offen rassistische und nationalistische Ideen des Kandidaten Trump hatten die rechte Szene befeuert. Sie sah in ihm den Heilsbringer, auf den sie lange gewartet hatte. Auf einer einschlägigen Facebook-Seite hieß es: Ölt sie ein, Jungs, die Zeit ist reif für eine Revolution. Per Stimmzettel oder per Kugel machen wir Amerika wieder großartig.
Die Rechten im Land sahen ihre Chance gekommen. Mit Stimmzettel oder Kugel wollten sie Amerika umkrempeln. Das Treffen in Charlottesville sollte der amerikanischen Öffentlichkeit zeigen „wir sind da!“. Die bewaffneten Milizen, die in die Auseinandersetzungen eingriffen, erinnerten an die Sturmtrupps der NSDAP in den zwanziger Jahren der Weimarer Republik.
Und dann kam die Stellungnahme von Präsident Donald Trump, der den Aufmarsch und die Gewalt der Rechten nicht verurteilte, sich nicht distanzierte, vielmehr erklärte, auf beiden Seiten hätte es „very fine people“ gegeben.
Mit den Bildern aus Charlottesville wuchs aber auch das Interesse der Öffentlichkeit an den Milizen in den USA. Viele fragten sich, wer diese bewaffneten Männer eigentlich seien, die keiner Einheit der Polizei oder der offiziellen Streitkräfte, auch nicht der Nationalgarden Amerikas angehören.

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Die Milizen berufen sich auf die amerikanische Verfassung, die das Recht auf das Tragen von Waffen zusichert, und ein entsprechendes Gesetz, in dem die Bildung einer „unorganisierten Miliz“ erlaubt wird, einer „Reservisten-Miliz“, die sich aus körperlich gesunden Männern im Alter von 17 bis 45 Jahren zusammensetzt, die nicht Mitglied der Nationalgarde oder der Marine-Reserve sind. Eine schwammige Formulierung, die es ermöglicht, dass sich private bewaffnete Milizen formieren dürfen. Von einem bestimmten Zweck ist nicht die Rede. Militia Groups in den USA verfolgen daher ganz unterschiedliche Ziele, wie Brian Levin, Direktor des Center for the Study of Hate and Extremism an der University von San Bernardino erklärt: „In einigen Regionen hat das mit der Landnutzung zu tun. In anderen Gebieten geht es um die Grenz-Patrouillen, die nicht genehmigt sind oder es haben sich allgemein Anti-Steuern Gruppen gebildet.“
Mark Pitcavage von der Anti-Defamation League beobachtet seit den frühen 1990er Jahren die Milizen in den USA. Er gilt als Experte, wenn es um die bewaffneten Gruppen im eigenen Land geht. Pitcavage betont, dass in Charlottesville die Militia nicht Teil der Rassisten waren. „Wir schätzen, dass es rund 500 Gruppen gibt mit insgesamt zwischen 50.000 und 75.000 Mitgliedern. Und zwischen ihnen gibt es große Unterschiede. Einige sind sehr aktiv im paramilitärischen Training, andere sind mehr politisch orientiert, wiederum andere treten nur online auf. Sie sind alle Extremisten, sie fallen unter die Kategorie rechter Extremismus, aber es gibt kein einheitliches Bild.“
Neben den klassisch paramilitärischen Gruppen gibt es noch die „Oath Keepers“, die Hüter des Eides, eine Vereinigung aktiver und ehemaliger Militärs. Dann noch „Three Percenters“, sie sehen sich in der Tradition der amerikanischen Revolutionäre des 18. Jahrhunderts. Sie hängen dem Mythos an, dass nur drei Prozent der Kolonisten erfolgreich gegen das britische Königreich kämpften. Beide Organisationen agieren auf nationaler Ebene und sind gewaltbereite rechtsradikale Milizen, die immer wieder in Erscheinung treten.

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Auch wenn die Milizen in den USA sich in einer historischen Tradition sehen, begann ihre eigentliche Geschichte erst Anfang der 1990er Jahre. Damals war Bill Clinton Präsident. Mark Pitcavage sagt: „Die Miliz-Bewegung begann 1994 als Reaktion auf Ereignisse wie die Verabschiedung von Waffengesetzen, die Unterzeichnung von NAFTA, dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen und vor allem zwei Konfrontationen der Bundesregierung mit gesellschaftlichen Außenseitern. Eine davon gab es 1992 in Idaho und eine weitere in Waco, Texas, 1993. In beiden Fällen machte die Bundesregierung gewaltige Fehler und Unschuldige wurden bei diesen Konfrontationen getötet. Die Vorfälle in Ruby Ridge, Idaho, und in Waco, Texas, wurden von vielen als Ruf, bewaffnete Milizen zu gründen, verstanden, um sich gegen den Staat zu wehren. In Ruby Ridge widersetzte sich ein Farmer seiner Verhaftung, in Waco wollte eine religiöse Sekte eine Razzia verhindern. Beide Male belagerte das FBI privates Gelände, beide Male gab es bei dessen Erstürmung Tote. Brian Levin vom Center for the Study of Hate and Extremism beschreibt diese Entwicklung als Flächenbrand im ganzen Land. Interessierte gab es in allen Teilen der USA. Sie sahen sich in ihren Verschwörungstheorien bestätigt, wie Mark Pitcavage von der Anti-Defamation League erklärt. „Die Leute glauben, dass der Rest der Welt von einer sozialistischen Weltregierung übernommen wurde, eine riesige Verschwörung, um die gesamte Welt durch eine tyrannische sozialistische Regierung zu kontrollieren. Und die Vereinigten Staaten seien die letzte Bastion der Freiheit. Aber unsere Regierung kollaboriere mit dieser Verschwörung, die sie oftmals als New World Order bezeichnen. Ganz langsam würden uns unsere Rechte und Freiheiten entzogen, auch unser Grundrecht auf Waffenbesitz. Denn das ist das Recht, das all unsere anderen Rechte schütze.“
Lawrence Rosenthal ist der Direktor des Center for Right Wing Studies an der University of California in Berkeley. Auch er sieht die ersten Jahre der Clinton-Administration als Geburtsstunde der amerikanischen Miliz-Bewegung. Doch dann kam mit dem Bombenattentat auf das Federal Building in Oklahoma City am 19. April 1995 ein brutales Erwachen für die amerikanische Gesellschaft: „Es war ein bewusster Racheakt gegen die Bundesregierung für die Aktion in Waco. Und die Milizen verkrochen sich danach wieder in die dunklen Ecken der amerikanischen Gesellschaft. Mit anderen Worten, sie blieben unter dem Radar der gewählten Politiker oder der weiteren Kultur.“
Doch die Bewegung wuchs weiter an. Denn zum ersten Mal waren die Milizen und ihre Ziele in aller Munde. In allen Medien wurde über sie und den Terrorakt berichtet. Was dazu führte, dass viele Leute sich entweder einer Miliz anschlossen oder eine eigene Gruppe gründeten, da sie nun mit der Bewegung vertraut waren.
Erst am Ende der 90er Jahre verlor die Bewegung an Fahrt, meint Mark Pitcavage. Die angekündigte Jahr 2000-Katastrophe traf sie hart, denn viele der Milizen waren davon überzeugt, dass die Computer zur Jahrtausendwende streiken würden, und die Regierung die New World Order nutzen würde, den Ausnahmezustand auszurufen und die Verfassung außer Kraft zu setzen. Wenn dies dann der Fall sei, würden die Milizen im Land sich gegen die Regierung erheben, wurde gedroht. Doch die Computer liefen weiter. 2002/2003 erreichte die Miliz-Bewegung ihren Tiefpunkt in den USA und es gab nur noch wenige aktive Gruppen im Land.
Die Miliz-Bewegung in den USA köchelte für mehrere Jahre auf Sparflamme vor sich hin. Die Terroranschläge des 11. September 2001 führten nicht zu einem Anstieg der Mitgliederzahlen. Ihre patriotische Aufgabe sahen viele Amerikaner jetzt eher darin, sich den offiziellen amerikanischen Streitkräften und den Nationalgarden der Bundesstaaten anzuschließen. In den militärischen Konflikten in Afghanistan und Irak konnten sie Erfahrungen sammeln für ihre zukünftige Mitarbeit in der Miliz-Bewegung. Als am Ende der Ära Georg W. Bush Truppen aus dem Krieg gegen den Terror heimkehrten stiegen in den USA die Mitgliedszahlen der verschiedenen Milizen wieder. „Interessanterweise war es der Wahlkampf von Barack Obama, der zu einem deutlichen Anwachsen führte“, erinnert sich Brian Levin vom Center for the Study of Hate and Extremism.
Mit Barack Obama hatten die Milizen wieder ein Feindbild, auch wenn sie George W. Bush nicht mochten. Sie hassten ihn nicht so wie Bill Clinton. Aber Barack Obama konnten sie wieder richtig hassen. Und auf Barack Obama projizierten sie ihren gesamten Hass auf die Regierung, sie pflegten ihre Verschwörungstheorien und fügten neue hinzu wie die Behauptung, Obama sei kein Amerikaner, vielmehr ein Moslem, der Amerika schaden wolle. Zur gleichen Zeit begann die Erfolgsgeschichte der sozialen Medien. Mitglieder der Milizen konnten auf einmal ihre Sichtweisen schnell und weit über Myspace, Facebook und Youtube verbreiten.

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Ich wollte für diese Reportage eine Miliz kennenlernen, sie bei einer Trainingseinheit begleiten. Doch das erwies sich als schwierig. Die Gruppen sind öffentlichkeitsscheu. Versuche, Milizen in Oregon, Idaho und Nevada zu kontaktieren, waren erfolglos. Auf Facebook entdeckte ich schließlich die Delta Company der California State Militia. Ihr Pressesprecher antwortete auf meine Anfrage, man sei gerne zu einem Treffen bereit, auch zu Interviews und die Teilnahme an einer Trainingseinheit sei auch möglich. Über Wochen tauschten wir Emails aus, ein Treffen wurde immer wieder verschoben, bis der Pressesprecher schließlich schrieb: „Ich denke, unsere Zurückhaltung, Ihnen ein Interview zu gewähren kommt daher, dass wir Ihre Beiträge in den sozialen Medien zur Waffensituation in den USA gelesen haben und glauben, dass Sie nicht fair über uns berichten würden. Sie vergleichen die NRA mit einer inländischen amerikanischen Terroristengruppe und haben eine sehr europäische Sichtweise bezüglich des Waffenbesitzes.“
Da war die Google-Übersetzung, die die California State Militia wohl benutzte, offenbar ungenau. Die NRA hatte ich nie mit einer Terrorgruppe verglichen. Ich versuchte mein Interview mit weiteren Mails zu retten und schrieb offen, dass wir sicherlich nicht in allem überein stimmen würden, aber wir sollten reden. Der Satz, der wahrscheinlich für die Mitglieder ausschlaggebend war, lautete: We can agree to disagree!
Daraufhin wurde ich zu einem Treffen am Sonntagmorgen im Waffle House in Livermore eingeladen. Acht Männer der California State Militia saßen in militärischer Kleidung um einen Tisch und begrüßten mich freundlich. Mein Mikrofon blieb in der Tasche. Die Mitglieder stellten sich vor, erzählten von ihren Erfahrungen und warum sie der Miliz angehörten. Es waren keine Glatzköpfe, sie hatten auch keine Hakenkreuz-Tätowierungen, trugen keine „Make America Great Again“-Baseballkappen. Hier saß eine Gruppe von Familienvätern mit verschiedensten beruflichen Erfahrungen zusammen. Was sie verband, war ihr Patriotismus und die Sorge darüber, dass der Staat in einer Notfallsituation sie und ihre Familien nicht beschützen könnte.
Clyde Massengale, Hauptmann, und Jason Lewis, Oberleutnant der California State Militia, Delta Company traf ich schließlich an einem Abend in einer Pizzeria in Lafayette, östlich von Oakland. Massengale hat lange Haare, ist Mitte 50, trägt wie Lewis einen Pullover mit dem Abzeichen der California State Militia und erklärt, dass sein Sohn auf die Waldorfschule geht und er daheim keinen Fernseher hat.
Neben ihm sitzt Jason Lewis, Ende 40, er lacht gerne. Ihn könnte man sich in jeder Bankfiliale vorstellen. Beide erzählen, dass Naturkatastrophen sie motivierte, sich besser auf den Notfall vorzubereiten. Massengale durchlebte mit seiner Familie ein gewaltiges Feuer. Lewis „wachte auf“, wie er es beschreibt, nach dem Hurrikan Katrina in New Orleans. Beide Männer suchten nach Organisationen, die sie in ihrem Anliegen unterstützten. Doch beim Roten Kreuz fanden sie nicht das, was sie suchten. Der militärische Aspekt und auch die Gemeinschaft einer Gruppe waren ihnen wichtig. Verschwörungstheorien, rassistische Parolen, Gewaltverherrlichung, davon bekomme ich nichts zu hören. Was sie verbindet, ist der militärische Aspekt: Man organisiert sich entsprechend, trainiert auf einen Notfall hin. Für Clyde Massengale steht fest: „Ich sage nicht, dass wir nicht diese Leute mit den Aluhüten haben, aber diese Leute bleiben nicht lange dabei. Weder die richtigen Verschwörungstheoretiker noch die richtigen Hardcore Typen, für die sind wir sowieso nicht hart genug. Für mich ist es die Gemeinschaft. Ich bin derjenige, der die Nachbarschaftshilfen eingeführt hat, denn wir sind hier in der Bay Area, du kennst das. Mein Ziel ist es, sicher zu seinem Haus und zu ihm zu kommen, wenn ich auf seine Kinder aufpassen soll, wenn er nicht nach Hause kommen kann.“
Nachbarschaft, Community, sich gegenseitig helfen, sich vorbereiten auf eine Katastrophe, ein Feuer oder ein Erdbeben, was in Kalifornien nicht selten ist, das sei ihnen wichtig. Die California State Militia versteht sich als eine Gruppe von Männern, die durchaus patriotisch denken und sich dabei auf die Verfassung berufen. Kriminell oder vorbestraft darf man nicht sein, wenn man Mitglied werden will. Die Miliz trainiert zwar auch mit Waffen, man müsse aber keine besitzen, nur sie bedienen können, sagen sie. Hauptmann Massengale als Anführer der California State Militia grenzt sich gern von anderen Milizen ab: „Es gibt immer wieder Versuche alle zu vernetzen, aber seien wir mal ehrlich, es sind alles Alpha-Kerle, was glaubst du, was da passiert? Wir bleiben lieber außen vor und beobachten das. Wir denken darüber nach, ein Amateurfunknetz aufzubauen, bei dem man auch lizensiert wird. Aber das geht nicht mit allen Gruppen, denn für uns ist es wichtig, alle Teilnehmer zu überprüfen. Es geht dabei um Vertrauen, ich muss ihnen vertrauen, und sie mir, von daher wollen wir nicht jeden dabei haben.“

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Die California State Militia versteht sich als harmlose, weitgehend unpolitische Bürgerinitiative. Auch ihre Mitglieder tragen Waffen, das sei kein Problem, vielmehr ganz normal für einen amerikanischen Staatsbürger, sagen sie. Andere Gruppen hingegen haben sich in den letzten Jahren radikalisiert. Wobei die sozialen Medien eine zunehmend wichtige Rolle spielten. Facebook, Twitter, Youtube, Online Radio, die Milizen in den USA agieren ganz offen, wenn man sie denn wahrnehmen will. Was Talk Radio für den Aufstieg von Newt Gingrich und dessen „Republican Revolution“ Mitte der 90er Jahre war, was FOX News für die Wahl und Wiederwahl von George W. Bush bedeutete, wurden die sozialen Medien für die Mobilisierung der Milizen und des rechtsextremen Randes in der amerikanischen Gesellschaft, meint Mark Pitcavage: „Das Ergebnis dieser Entwicklung zwischen 2008 und 2010 war, dass sich die Mitgliedszahlen der Militia-Bewegung vervierfacht haben und sie sich damit gewaltig zurück gemeldet hat. So stark waren sie seit Mitte der 90er Jahre nicht mehr. Da vieles über die sozialen Medien lief, kamen viele junge Leute dazu. Vorher waren es überwiegend Männer mittleren Alters.“
Um Mitglied einer Miliz zu werden, musste man bislang eine Organisation in seiner näheren Umgebung finden. Und die war dann vor allem auf paramilitärisches Training ausgerichtet. Heute kann man sich ihnen im Internet anschließen. Für Brian Levin erhielten die Gruppen dann noch einen zweiten Auftrieb: „Die Wahl von Donald Trump hat dazu beigetragen, dass das Anti-Establishment, dass regierungsfeindliche Verschwörungstheorien auf eine akzeptierbare Stufe gehoben wurden. Wir haben Medien wie InfoWars, die auf einmal eine Bedeutung bekommen, die sie zuvor nicht hatten.“
InfoWars ist eine Radio Sendung von Alex Jones, die derzeit rund zwei Millionen Hörer pro Woche erreicht. Themen sind vor allem Verschwörungstheorien, die von der New World Order handeln. Aber auch vom Massaker an der Sandy-Hook-Grundschule, das angeblich von der Regierung geplant wurde als Aktion gegen Waffenbesitzer. Lange Zeit war Donald Trump einer von Jones’ Hörern, er war sogar Gast der Sendung. Nach Aussagen von Alex Jones rief der Präsident ihn am Tag nach seinem Wahlsieg an, um sich bei ihm für seine Unterstützung zu bedanken.
Lawrence Rosenthal, Direktor des Center for Right Wing Studies an der University of California in Berkeley, sieht das Erscheinen von Donald Trump auf der politischen Bühne als dramatischen Einschnitt: „Man stelle sich nur mal vor, man ist ein Amerikaner, der von der Überlegenheit der Weißen, von Nationalismus, von der Politik des Ku Klux Klan, überzeugt ist. Und über die Jahre konnte man nicht wählen gehen, weil nur selten jemand wie David Duke kandidierte, der führend beim Ku Klux Klan war. Diese Amerikaner waren außerhalb des politischen Systems. Auf einmal ist da jemand im Präsidentenwahlkampf, der ihre Sprache spricht. Das elektrisiert die Leute, die bislang am äußersten Rand der amerikanischen Politik standen. Und sie wurden mobilisiert, wie nie zuvor.“
Mark Pitcavage sieht es ähnlich. Die Milizen hätten früh auf Donald Trump gesetzt, sagt er. Sie sind so weit rechts, dass Republikaner und Demokraten für sie gleich erscheinen. Aber Donald Trump war ein Außenseiter, Anti-Establishment, er glaubte selbst an Verschwörungstheorien. Und die Milizen sind meist gegen Immigranten und gegen Muslime und sie sahen in ihm jemanden, der auf ihrer Seite stand.
Präsident Trump hat sich bislang in keiner Form über die Milizen geäußert. Aber er hat ihre Verschwörungstheorien weiter verbreitet und sogar Tweets von regierungsfeindlichen und Hassgruppen geteilt. Und diese Gruppen, vor allem aus der Alt.Right-Bewegung sehen in Trump ihren Führer. Seine Verankerung im Anti-Establishment zog viele Leute im politisch konservativ-rechten Feld an, darunter waren auch Rassisten, Milizen und Verschwörungstheoretiker.
Donald Trump kam mit seiner Haltung zum Grundrecht auf Waffenbesitz, seinem Eintreten für sichere Grenzen, seinen rassistischen und nationalistischen Tönen, seinen Kampfrufen „America First“ und „Make America Great Again“ bei den Milizen gut an. Und dann war dieser Kandidat auf einmal im Weißen Haus. Mark Pitcavage glaubt, dass die Milizen damit in eine Identitätskrise geraten sind: „Trump hat die Wahl überraschend für jeden gewonnen und die Milizen haben den Kandidaten zum Präsidenten bekommen, den sie wollten. Sie haben nicht gemerkt, dass sie das nun in ein Dilemma bringt. Denn all das, was die Bewegung in den letzten 23 Jahren angetrieben hat, war die Wut auf die Bundesregierung. Aber wie kannst du wütend auf die Regierung sein, wenn dein eigener Mann an der Spitze steht? Das könnte dazu führen, dass die Miliz-Bewegung vielleicht mit der Wahl von Trump schrumpfen wird, weniger aktiv sein wird.“

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Beobachter der rechten Szene in den USA gingen davon aus, dass sich die Milizen nach dem Wahlsieg Trumps wieder den alten Feindbildern zuwenden würden: Immigranten und Muslimen. Doch dem war nicht so. Die linksextreme Antifa wurde zum Gegner erklärt, obwohl es bislang kaum Konflikte zwischen den beiden Lagern gab. Der Großteil der Militia Groups in den USA war kein Verfechter von „White Supremacy“, wie der Ku Klux Klan oder andere Neo-Nazi Gruppen. Für die Antifa hingegen waren alle Milizen bewaffnete Spinner und Rassisten, die ihre Verschwörungstheorien pflegten. Die Antifa konzentrierte sich auf Donald Trump, den sie als Rassisten betrachten, protestierten bei seinen Veranstaltungen, bei seiner Vereidigung und auch bei Auftritten von Trump Vertrauten. Damit wurde die Antifa der neue Feind der Milizen.
Am 15. April 2016 kam es in Downtown Berkeley am Rande einer politischen Veranstaltung, organisiert von der Alt.Right-Bewegung um den Rechtsextremen Richard Spencer, zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen der Antifa und rechten Gruppen, darunter auch Mitgliedern verschiedener Milizen. Die Bilder zeigten bürgerkriegsähnliche Zustände und wurden als „Battle for Berkeley“ bekannt. Beide Seiten feierten ihre Siege. Für Lawrence Rosenthal war das ein Schock, denn damit gab es einen historischen Übergang. „Richard Spencer, der als Gründer dieser Bewegung gilt, kam nach der Schlacht von Berkeley Mitte April zu dem Ergebnis, dass wir in den USA nun Zustände wie in der Weimarer Republik erreicht hätten. Was bedeutet, dass die Politik nicht nur durch das Wahlsystem in den USA fragmentiert sei, sondern dass die Leute nur noch zwischen zwei Extremen wählen könnten. Spencer war ganz klar, dass das dem Aufstieg der Nazis gleich kam, er zitierte wieder die Weimarer Republik und sagte enthusiastisch, dass er nicht damit gerechnet habe, so etwas noch erleben zu dürfen.“
Die Straßenkämpfe von Berkeley bis Charlottesville erhielten auf einmal einen nicht geahnten politischen Dreh. Die Extremen in den USA radikalisierten sich weiter in einer gefährlichen Art, wie Rosenthal es beschreibt: „Die Frage nach dem Sinn einer Miliz und der Rolle einer Miliz in der amerikanischen Politik hat sich durch die Alt.Right-Bewegung, die nun im Weißen Haus repräsentiert ist, verändert. Ein Teil von ihr sieht sich nicht nur als rechtsnational, Trump ist für sie ein Mittel, um an die Macht zu kommen. Aber jemand, der diesen Weg an die Macht kennt, weiß, dass Gewalt durch Milizen dazugehört wie die Straßenkämpfe in der Weimarer Republik oder beim Aufstieg des Faschismus in Italien, wo die Schwarzhemden mitten in der Nacht mit einem Laster aufs Land fuhren, um einen sozialistischen Bürgermeister zu lynchen, oder Öl in die Kehlen von Gewerkschaftern zu schütten. Sie hatten dafür einen Namen: spedicione punitive – Strafexpeditionen. Was wir heute sehen von der Alt.Right-Bewegung ist das Bestreben, solche Strafexpeditionen aus den sozialen Medien und dem Internet auf die Straße zu bringen.“
Doch auch wenn dieser Brückenschlag zwischen der Alt.Right-Bewegung, rassistischen und Neo-Nazi Organisationen und den Miliz-Gruppen nicht gelingen sollte, die Gefahr eines domestic terrorism in den USA, ausgeführt von einzelnen Mitgliedern oder einigen jener Gruppen ist allgegenwärtig und nimmt zu, meint Mark Pitcavage: „Sie sind eine absolute Gefahr. Sie sind erstens Extremisten, zweitens bewaffnet. Und drittens haben sie eine lange Geschichte von kriminellen Aktivitäten, darunter auch Terroranschläge.“
Es ist Trumps immer wiederkehrendes Spiel mit dem Feuer, das viele im In- und Ausland an historische Vergleiche denken lässt. Fatalistisch klingt da das Wort von Mahatma Gandhi, das ein Fernseh-Kommentator nach den Vorfällen von Charlottesville zitierte: „Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.“