von Renate Hoffmann
Die Stadt in der südfranzösischen Region Provence mit all ihren historischen und kulturellen Hinterlassenschaften und der Nachahmung dieser Hinterlassenschaften in den Souvenirläden erweckt Neugier. Man nannte sie vor Zeiten das Gallische Rom. Allein in Ansicht der großmächtigen, römischen Ellipse, dem Amphitheater (Les Arènes), den Resten von Kaiser Konstantins Thermen und denen des antiken Theaters, bin ich überzeugt von der Richtigkeit dieser Benennung. Und dann – VINCENT. Nicht ausschließlich, doch vordergründig weht Van Goghs Geist durch Straßen, Gassen, Erinnerungsstätten. Letztere verbindet ein „Parcours à pied“ miteinander.
In den Februartagen des Jahres 1888, des unsteten Lebens in Paris überdrüssig, reist der Maler Vincent van Gogh (1853–1890) nach Arles. Er erhofft sich Wärme, das magische Licht des Südens und den provenzalischen Frühling. Doch Stadt und Land enttäuschen ihn. Vincent (aus den Briefen an seinen Bruder Theo): „Nun will ich Dir berichten, daß zu meinem Empfang der Schnee hier überall mindestens sechzig Zentimeter hoch liegt, und es schneit immer noch.“ Zur Ermutigung malt er sich den Frühling ins Zimmer: einen Mandelzweig im Glas, den er zum Blühen brachte; schüchtern, zärtlich, verheißungsvoll.
In Bälde begeistert ihn die Obstbaumblüte im Umland. Mandelgeäst, berückend in seiner japanisch anmutenden Zierlichkeit. Die Pfirsichblütenpracht, entdeckt in einem Garten, leicht und luftig und rosafarben getönt; eine Huldigung an die Frühlingstage in Arles. – Vincent malt und zeichnet und zeichnet und malt wie im Rausch. „Nur dann fühle ich das Leben, wenn ich wie toll arbeite.“ Im Juli sind es die Kornfelder, im August die Sonnenblumen. Dazwischen schieben sich Porträts neuer Bekanntschaften in der Stadt. Der Briefträger Joseph Roulin und seine Familie. „Dieser Postbote ist interessanter als manch andere Leute …“ Die treue Augustine Roulin, mütterlich, pflichtbewusst und von Blumen umrahmt (Gemälde „Der Schaukelstuhl“). Auch Armand Roulin, der älteste Sohn, erhält sein Abbild. Ebenso die schöne Madame Ginoux („Die Arlesierin“), nachdenklich und mit einem Buch in der Hand. Sie ist die Frau des Besitzers vom Hotel-Restaurant Carrel, in dem der Maler nach seiner Ankunft logierte. Madame Ginoux blieb Vincent van Gogh, dem schwierigen Mann, freundschaftlich verbunden.
Da ist auch das Porträt des Doktors Felix Rey. Er hatte den Maler während dessen Hospital-Aufenthalts in Arles umsichtig und verständnisvoll betreut. Dafür schenkte ihm Vincent das Gemälde. Die ungewohnte, unkonventionelle Malart empörte Reys Mutter. Sie verbannte das nunmehr kostbare Werk in den Hühnerstall. Zur Freude aller Kunstliebhaber wurde das Malheur entdeckt; und nun findet man den sympathischen jungen Arzt in ungleich besser gestellter Position im Moskauer Puschkin-Museum wieder.
Vincent, der Besessene, nimmt auf und setzt um, was ihm vor die Augen kommt. Das Stadtleben in den Arènes und den Cafés; die Sternennacht über der Rhone, Spaziergänger in den öffentlichen Anlagen und auf dem historischen, noch aus Römerzeiten stammenden Friedhof Alyscamps (den Elyseischen Feldern). Und „Das gelbe Haus“. Er mietet es im Mai 1888 und bezieht es endgültig im Spätsommer. „Mein Haus ist außen gelb gestrichen wie frische Butter, mit Fensterläden in grellem Grün, es steht unter der prallen Sonne und weist auf den Platz, wo sich ein von Platanen, von Lorbeersträuchern und von Akazien grüner Park befindet. Hier drinnen kann ich leben und atmen, nachdenken und malen.“ Kaum eingerichtet, entsteht auf der Leinwand „Das Zimmer des Vincent“. Einfach, bescheiden, den Arbeitsmöglichkeiten untergeordnet. Doch in helles Licht getaucht, in dem das Gelb „wie frische Butter“ den Ton bestimmt.
Vincent arbeitet am Tage und des Nachts. Unter der grellen Sonne, die das Land ausdörrt und unter dem Sternenhimmel, „mitten in der Nacht bei einer Gaslaterne. Der Himmel ist grünblau, das Wasser königsblau und das Gelände lila. Die Stadt ist blau und violett, das Gas gelb, und die Reflexe rotgolden und gehen bis ins Bronzegrüne. Auf dem grünblauen Himmelszelt funkelt grün und rosa der Große Bär …“ Die Breite der Van Gogh’schen Farbpalette wird offenbar.
Was das Malen im Freien erschwert, ist der heftige, scharf wehende Wind. Der Mistral. Vincent nennt ihn den „Teufel Mistral“. Er habe ständig gegen ihn zu kämpfen und müsse die Leinwände befestigen. Das Wissen darum erklärt wohl auch die wilde Bewegtheit mancher seiner Gemälde. Der Wind peitscht sie, beugt die Zypressen und wirbelt die Wolken.
Ich besuche Arles in den Maitagen. Der Mistral stürmt mir entgegen, entreißt mir den Stadtplan und treibt ihn blitzschnell in den Rhonefluss. Ich versuche dem „Parcours à pied“ zu folgen und schlendere durch die Straßen, die Rue Voltaire heißen und Rue Diderot – soweit der Mistral das Schlendern erlaubt. Auf den breiten Stufen zum Amphitheater sitzen junge Leute und genießen die Nachmittagssonne, Eis und Küsse. Von den oberen Reihen des gewaltigen Bauwerks reicht der Blick weit über die Stadt, den Fluss bis zu den Alpilles hinüber. Van Gogh malte die Arènes von Menschen dicht gefüllt. Heue ist kein Drängen und Gestikulieren auf den Rängen.
Vom „Gelben Haus“ ist nicht mehr geblieben als des Malers leuchtendes Ensemble. Im Juni 1944 wurde es bei Kämpfen um die Stadt zerstört. – „Das Café am Abend“ aber wird sich finden lassen. „Ein Café von außen, mit einer Terrasse, die in der blauen Nacht durch eine große Gaslaterne beleuchtet wird, mit einem Stück blauen Sternenhimmel.“ Ich frage nach demCafé la nuit. Ein Herr gibt bereitwillig Auskunft: „Es steht am Place du Forum. Seien Sie nicht enttäuscht, van Gogh malte es viel schöner.“
Es hat sich den Namen „Café van Gogh“ gegeben, schmückt sich jedoch auch mit dem bezugskräftigen Zweitnamen „Café la nuit“. Es gelbt so gelb … blickefangend. Des Malers geliebte Sonnenfarbe überzieht Fassade, Marquisen und die Wände der Terrasse. Rot ergänzt Gelb. In rotem Plüsch gehaltene Chaiselongues, in denen man versinkt, lehnen an der Terrassenwand. Das Haus hat geschlossen. Bedauernd, wie ich, steht eine japanische Touristengruppe davor. Sie geht weiter. Ich bleibe und klopfe an. Es wird mir aufgetan. Fragende Augen meinerseits. „Oui, Madame“ und eine einladende Handbewegung.
Gedeckte Tische, ein Strauß weißer Lilien duftet vor sich hin; gedämpftes Licht. Drinnen wie draußen dominieren die Farben Gelb und Rot. Schwere Plüschvorhänge, von Kordeln gehalten, hängen an den Fenstern und Bilder van Goghs an den Wänden: Irisblüten in samtenem Blau, die „Brücke von Langlois“ und „Das Café am Abend“. Eine geschwungene Treppe führt zur oberen Etage hinauf. Alte Deckenbalken sind in groben Pinselstrichen blau, grün und gelb bemalt. In den Lilienduft mischt sich der abgestandene Geruch einer durchfeierten Nacht. Dank und Abschied. – Draußen vor der Tür überfällt mich der Mistral, den ich fast schon vergessen hatte.
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