21. Jahrgang | Nummer 8 | 9. April 2018

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal elend verbissene Leidenschaften sowie eine Riesenroboter-Klaue, die bedrohlich nach Menschen grapscht….

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Der Gipfel, der Abgrund, dieser Sturz von hoch oben nach unten auf die Rampe, dem Publikum vor die Füße. Dann dieses Giftig-Gelbe, dieses Glorios-Goldene mit diesem Dunkelroten, dem übers schöne Menschenfleisch rinnenden Blut. Ach! Und immerzu hämmert dieses Ich, Ich, Ich, Ich. Das verdammte Ego, dieser blöde Wahn …
Der Gipfel, das ist der sensationell steile Kegelberg, den Olaf Altmann bis auf den Schnürboden hinauf ins schwarze Bühnenhaus vom Berliner Ensemble baute. Für Penthesilea im giftig-gelb-glorios-goldenen Prunkgewand der Thron. Hoch oben die Königin der Amazonen, tief unten Achill, Heerführer der feindlichen Griechen. Beide erstarrt an der Frontlinie ihres Kriegs. Weil: einander verfallen in Leidenschaft. Wie „zwei Gestirne, die aufeinanderprallen“. Dann Küsse und Bisse, das schöne Menschenfleisch, das rote Blut. In ihrer Raserei tötet Penthesilea den waffenlos sich ihr hingebenden Achill. Mörderischer Höhepunkt. Blindwütig sticht sie zu und frisst es, das geliebte Fleisch. Und verreckt in der Ekstase.
Eine durch und durch hellsichtige Traumfantasie von Heinrich von Kleist; und doch zugleich eine tiefdunkle, geheimnisvolle, unergründliche. Einer der schönsten Texte deutscher Sprache. Poesie in Vollendung; handelnd vom denkbar Schrecklichsten: „Wir vernichten, was wir lieben“, so bringt es die große Kleist-Versteherin (und traurige Verehrerin) Christa Wolf auf den Punkt.
Regisseur Michael Thalheimer konzentriert mutig zupackend und klug Kleists romantisch-schmerzvolles Nachtstück unter mediterran strahlender Sonne auf drei Personen: Die Titelheldin (Constanze Becker), Achill (Felix Rech) und eine kommentierende Figur (Josefin Platt) aus der hohen Frau Gefolge. Thalheimer erfindet kontrapunktisch zum Text skulptural wuchtige Figurationen von suggestivster Bildwirkung – und lässt dabei die Sprache leuchten bis hin in ihre feinsten Nuancen und Verästelungen. Die unglaublich intensive, so hinreißend betörende wie unheimlich verstörende Constanze Becker zelebriert das Sprachkunstwerk auf schier unerhörte Art: alle denkbare Facetten von martialischer Heroine bis Mädchenzartheit hat sie im Kehlkopf und auf der Zunge und in der Körperhaltung. Eine unvergleichliche, unvergessliche Meisterleistung; derzeit wohl einmalig im deutschen Theater.
Die drei Spieler-Sprecher, die Regie, das Bühnen- und Kostümbild, sie alle zusammen zelebrieren ein Beispiel ganz großen Theaters mit ganz großem Text. Hundert hochkonzentrierte Minuten, in denen man atemlos, hingerissen, entsetzt oder bestürzt befremdet lauscht und schaut. Schönheit, Schauer, Schrecken, Schmutz, Hingabe und Vernichtung, Gewalt und Zartheit – all dies wahnsinnige, doch zutiefst Menschliche geballt und gereimt in eins. „Küsse reimt sich auf Bisse.“

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Eine Null ist nichts und alles, A und O, Anfang und Ende. So nennt denn Herbert Fritsch sein neues Opus an der Berliner Schaubühne schlicht „Null“. – Nach seinen anfangs genialisch wirkenden schauspielerischen Dressuren und Pantomimen mit Gesumm und Gebrumm „Murmel, Murmel“ und „der die mann“, nach dem schon nicht mehr so genialischem „Pfusch“ (noch an der Volksbühne) und nach „Zeppelin“ (seinem Einsteiger an der Schaubühne) könnte man meinen, „Null“ bedeute ein Endepunkt dieserart virtuos phantastischen Abstraktionstheaters. Jetzt also das letzte Kreisen von Herberts Endlosschleife, für die das Rund der Null ja gleichfalls steht.
So gesehen ist es nur logisch, dass – obgleich angezeigt als Neuproduktion/Uraufführung – nichts wirklich Neues kommt bei dieser womöglich letzten Drehung um die eigene Achse namens Fritsch, sondern das Alte, vielfach Kopierte. Freilich, der koboldische Fantast ist noch immer gewieft genug, mit den erprobten, rein artistischen Mitteln allerhand beredt zu erzählen von der Menschen Glückseligkeit und Elendsschmerz. Aber, ach, man kenntʼs doch schon (zu genüge). Gingʼs doch schon immer bei Fritsch um die Null – verstanden als Sinnbild für den wahnhaften, nimmermüden Menschen-Kreislauf zwischen Anfangen und Scheitern, fein durchweht von Melancholie und durchsetzt mit grotesken Krachern.
Diesen schön-schlimmen, traurig-komischen Tatbestand umtänzelt eine prima Schar gelenkiger Artisten-Schauspieler zwei längliche Stunden auf Art des Nouveau Cirque. Noch einmal also die Vergeblichkeitsspielchen als Nummernrevue: Etwa die Nummer, einen Gesellschaftstanz zustande zu bringen, an einer Kletterstange zurechtzukommen (das Rauf und Runter) oder an Bungee-Seilen wippend zu balancieren und sich kollektiv zu ordnen zwischen Schweben und Bodenhaftung. Oder die Nummer Chorsingen; oder ein Blasorchester zu intonieren mit viel Luft oder ohne Atem, aber mit Fingerfertigkeit. Lauter hübsche, auch komische, auch absurde Aufbrüche ins Unzulängliche. In ihren Wiederholungen freilich ermüdend. Auch wenn da – Hurra, lustige Novität! – ein Gabelstapler über die Bühne tuckert und mit oder ohne den neun Akteuren (wieder!) Rauf und Runter spielt. Oder eben Leerlauf.
Wir haben begriffen: Nichts klappt, was da hinreißend eingeübt wurde. Das Unperfekte als perfekte Trainingsleistung. Und zwischendurch darf man sich so seine Gedanken machen oder auch nicht. Wenn ja, dann womöglich bis hin zum Faustischen mit Goethe im Hinterkopf: Wer immer strebend sich bemüht …? Hier allerdings mit pessimistischem Ergebnis: Vergebliche Liebesmüh; was nicht zu kritisieren wäre. Oder optimistisch gesehen: Immer Scheitern, immer besser Scheitern – bestenfalls.
Zum Finale nach Auf und Ab, Hin und Her, nach Dauer-Chaos und sekundenkurzer Ordnung doch noch eine echt neue Idee von Fritsch als Bühnenbildner, der er auch ist: Da hängt im Bühnenhimmel wie ein Damoklesschwert eine riesige, bedrohlich bewegliche Roboterhand (bravo Technik!). Man meint, sie möchte sich in jedem Moment die Menschen/Schauspieler krallen. Am Ende thront sie da oben allein wie ein Sieger im ewigen Gemenschel, derweil alle Betroffenen sich dünne machen. Triumph computergestützter Technik übers notorisch gestörte Menschen-Zusammenspiel. Auch wieder ein Anfang; auch wieder ohne Aussicht auf Happy End.
Könnte man aber auch ganz anders deuten; nämlich als Fingerzeig auf den gegenwärtig zwiespältigen Theaterbetrieb: Einerseits: Saftige Menschenseelen mit dramatischen Konflikten im Rückzug auf den Brettern. Anderseits: Performative, installative, diskursive, eben technisch dominierte Demonstrationen von Titeln, Themen, Typen auf dem Vormarsch. Zur Vorherrschaft? Angesichts derartiger Befürchtung drängt sich die Frage auf, wann Herbert Fritsch gegensteuert und mit einem traditionellen Text- und Psycho-Drama endlich seine künstlerische Neuerfindung startet.