21. Jahrgang | Nummer 9 | 23. April 2018

Frühlingsgespräche

von Renate Hoffmann

Es lenzt! Über Nacht kam der Südwind. Tags darauf die erste Schwalbe. Und danach der Drang ins Grüne. Erstaunen über das Frühlingserwachen in den Vorgärten und im Stadtpark. Dass Busch und Baum grüne Blätter treiben, war in den Wintertagen fast in Vergessenheit geraten. Die Farbe Grün – unterstützt von zunehmender Sonneneinstrahlung – scheint belebend zu wirken. Mein Nachbar Berthold Neumann, sonst wenig gesprächig, grüßt um etliches freundlicher und fragt, ob ich die Zierkirsche unten an der Ecke schon bemerkt hätte, so zeitig habe sie noch nie geblüht.
Vom Grün verführt, gehe ich in die Berliner „Gärten der Welt“, die in unterschiedlich gestalteten Themenkreisen Gartenkultur und Gedankengut der Länder widerspiegeln. An der Kasse drängen sich die Lenzsüchtigen. Eine Unterhaltung vor mir: „Ich habe die Absicht, im Christlichen Garten endlich die Schriften zu entziffern.“ „Da müssen Sie aber viel Zeit aufbringen!“ „Das lernt man dort. Ich bin immer zu schnell durchgegangen. Heute möchte ich es wissen.“ „Ich gehe zu den Tulpen und Narzissen.“ „Sind die schon raus?“ „Klar!“ – Sie hat Recht. Auf den Rasenflächen und Rabatten leuchtet die Frühlings-Signalfarbe Gelb. Die Tulpen entlehnen dem Regenbogen alle Schattierungen. Für das Auge eine Wonne.
Der Orientalische Garten hat seine Tore weit geöffnet. Er ist mein Lieblingsaufenthalt. Die Wasserspiele werfen zierliche Bögen in die Luft, und die umlaufende Mauer fängt Wärme und Düfte. Die Bänke an der Morgenseite sind besetzt. Ein älterer Herr, elegant, charmant, bleibt stehen. Es drängt ihn, sich zu äußern: „Wunderbarer Anblick, dieses Blühen, nicht wahr?“ Ich nicke zustimmend. In den vier Gartenquartieren wetteifern vielfarbene Hyazinthen mit vielfarbenen Tulpen. Narzissen blühen im Überschwang. Stiefmütterchen in dunklem Purpur mit gelben Gesichtern drängen sich dazwischen. Die Kaiserkronen haben Knospen angesetzt. Werden sie Gelb oder Rot auflegen?
Zwei forsche Berlinerinnen tauschen sich aus: „Marion, guck mal, der Tempel in der Mitte is’ neu.“ „ Der is’ nich’ neu!“ „Doch, voriges Jahr war der noch nich’.“ „Siehste nich’, dass der verwittert is’?“ „Ja, jetzt seh’ ich’s .“ – Fliederfarbene Anemonen und Tausendschön und das bescheidene Vergissmeinnicht. Champagnerfarbige Hyazinthen erregen Aufsehen: „Marion, sin’ das ooch Hyzinthen? Ich weeß nie genau, wie die sich schreiben. Da is’ doch das ,H’.“ „Ja, vorne!“ „ Nee, da is’ noch eens in der Mitte. Egal wo, die riechen immer so schön.“ Ein Baum strahlt in prächtigem Rosarot. Begeisterter Ausruf: „ Marion, dort blüh’n Äppel!“ „Quatsch, im April blüh’n noch keene Äppel!“ „Das is’eb’n eene frühe Sorte.“ – Marion macht auf eine Immergrüne Magnolie aufmerksam. Sie sagt langsam und akzentuiert: „Das ist eine Magnolia grandiflora.“ „Woher weeßt’n das?“ „Ich weiß sogar, was das für eine besondere Art ist. ‚Blanchard’.“ „Das hätt’ ich in dir nich’ gesucht.“ „Na Mensch, dort hinten steht doch een Schild!“ – Erheitert verlasse ich den „orientalischen Frühling“.
Im Japanischen Garten findet man Ruhe, gemäß einer landeseigenen Redewendung: „Wenn du es eilig hast, mach einen Umweg.“ – An den Stufen und Steinen grünt es. Mahonien stehen in Blüte und verströmen ihren honigsüßen Duft. Hummelflug und Vogelgesang. Hohe Thuja-Hecken schützen vor dem Stimmengewirr des Hauptweges. Wasser fließt still, rauscht über Gestein und murmelt munter in einen kleinen Teich hinunter. Der überdachte Sitzplatz aus Zedernholz lädt zum Verweilen ein.
Der Blick ruht auf einer in feine, schweifende Linien geharkten Kiesfläche. Sie gilt als Sinnbild der Harmonie und gleicht dem Lauf des Wassers. Gartenbesucher rätseln: „Papa, was sind denn das für Furchen?“ Der größere Bruder kommt einer Antwort zuvor: „Das sind Reisfelder.“ Das Familienoberhaupt erklärt seinen beiden Sprösslingen, dass man sich hier Gedanken machen soll. „Worüber?“ „Nicht so viel reden und stille sein.“
Neben mir sitzt eine alte Dame. Sie ist blind und kommt öfter in den Japanischen Garten, wie sie sagt. „Ich spüre die Menschen und bin im Gleichgewicht.“ Sie erzählt ihre Lebensgeschichte. Ohne Wehklage. Die Erinnerung reicht weit zurück. „Mein Großvater war Kammerdiener bei Kaiser Wilhelm. Und meine Großmutter wusste, dass der Kaiser stark berlinert hat.“ Sie berichtet von ihren vielen Wanderungen und der Liebe zur Natur. „Das war, als ich noch sehen konnte. Nun sehe ich mit den Ohren und höre die Natur.“ In Hochachtung nehme ich Abschied von ihr. – Der Frühling stimmt heiter, macht gesprächig – und nachdenklich.