von Manfred Orlick
Kennen Sie noch Herbert Schirmer, Sybille Reider oder Peter Pollack?
Wahrscheinlich nicht.
Bei den Namen Rainer Eppelmann, Peter-Michael Diestel, Sabine Bergmann-Pohl oder gar Lothar de Maizière … macht es dann sicher klick. Ja, alles Mitglieder der letzten DDR-Regierung.
Als nach der ersten freien und demokratischen Wahl vom 18. März 1990 am 12. April die Volkskammer Lothar de Maizière zum Ministerpräsidenten wählte und fünf Tage später die Regierung vereidigt wurde, standen ausnahmslos Männer und Frauen auf der Bühne, die noch nie ein Regierungsamt bekleidet hatten. Der Start war von Beginn an auch von der Ungewissheit geprägt, wie lange er oder sie auf diesem Posten bleiben würde. Dass es am Ende gerade einmal 173 Tage waren, ahnte zu diesem Zeitpunkt wohl niemand.
Knapp dreißig Jahre später ist nur noch zu erahnen, vor welchen Herausforderungen die Ministerinnen und Minister dieser letzten DDR-Regierung standen. Schließlich galt es, nicht weniger als die deutsche Einheit zu ermöglichen, das heißt, 16 Millionen Menschen in ein anderes politisches System zu transformieren. Und sich damit schließlich selbst abzuschaffen.
Für eine Fernsehproduktion des MDR und eine Publikation des Mitteldeutschen Verlages wurden in den zurückliegenden zwei Jahren die noch lebenden Akteure der letzten DDR-Regierung um Interviews gebeten. Fast alle stimmten zu und gaben bereitwillig Auskunft über die bewegte Zeit und ihre Amtsführung. Wie Lothar de Maizière betonten die meisten, dass es mit Unterstützung, Beratung und Einflussnahme durch den Westen letztendlich darum ging, den Vereinigungsprozess auf Augenhöhe auszuhandeln. Dass die West-Ost-Zusammenarbeit nicht immer problemlos war, davon berichtet zum Beispiel Rainer Eppelmann, der als Pfarrer plötzlich Minister für Abrüstung und Verteidigung war, und der nach wenigen Wochen mitbekam, dass der „Mann seines Vertrauens“ alle Details aus den Sitzungen nach Bonn weitergab.
Cordula Schubert, damals mit dreißig Jahren jüngste Ministerin (für Jugend und Sport), wollte vor allem den Breiten- und Behindertensport fördern, was ihr den Zorn vieler DTSB-Funktionäre einbrachte. Die später im sächsischen Sozialministerium Tätige sieht heute wieder „ein Stück Opportunismus wie zu DDR-Zeiten“.
Markus Meckel, ebenfalls Pfarrer, der als Außenminister den Wiedervereinigungsprozess mitgestaltete, berichtet von den zähen Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und wie es im August 1990 zum Bruch der DDR-Regierungskoalition kam. Außerdem verweist er darauf, dass es bis heute keine entsprechende rechtliche Anerkennung der letzten DDR-Regierung gäbe, was sich unter anderem in den Pensionen äußere.
Ministerpräsident Lothar de Maizière, der zuvor schon Mitglied der Modrow-Regierung war, bekennt freimütig, dass er davon ausging, dass die DDR nach der Währungsunion am 1. Juli noch eine Weile länger funktionieren würde. So brachte man noch eine Reihe von Gesetzen auf den Weg, die dann durch die Einigung gegenstandslos wurden. Große Schwierigkeiten bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag hätten vor allem Eigentumsfragen und Berufsabschlüsse bereitet, wobei de Maizière der Auffassung ist, dass gerade beim Eigentum absolute Gerechtigkeit nicht zu schaffen gewesen sei.
Insgesamt 17 Interviews sind auf den 450 Seiten versammelt – 17 Erinnerungen mit persönlichen Sichtweisen. Damit wird ein enges Zeitfenster der jüngsten deutschen Geschichte noch einmal geöffnet – durch die damaligen Akteure, die eigentlich politische Laien waren. Doch im Gegensatz zu ihren westdeutschen Amtskollegen hatten sie keine Parteikarrieren hinter sich, daher ging es den meisten eher um Sachfragen, weniger um die eigene politische Rolle. Zumal allen bewusst war, dass sie sich selbst abschafften.
Von den Ministerinnen und Ministern dieser letzten DDR-Regierung sollte – abgesehen von einem zweimonatigen Amt von Lothar de Maizière als Bundesminister für besondere Aufgaben in der geschäftsführenden Kohl-Regierung Ende 1990 – niemand der ersten gesamtdeutschen Regierung angehören.
Olaf Jacobs / Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Herausgeber): „Die Staatsmacht, die sich selbst abschaffte. Die letzte DDR-Regierung im Gespräch. Interviews“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2018, 448 Seiten, 25,00 Euro.
Schlagwörter: DDR, Lothar de Maizière, Manfred Orlick