21. Jahrgang | Nummer 7 | 26. März 2018

Über Grenzen

von Arno Widmann

Die vereinigte politische und schriftstellerische Intelligenz von Henryk M. Broder über Thilo Sarrazin bis zu Uwe Tellkamp hat sich zu zwei Sätzen des Protestes aufgerafft. In dem einen ist von einer illegalen Masseneinwanderung die Rede. Im nächsten soll die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt werden.
Die Damen und Herren scheinen die letzten Jahre verschlafen zu haben. Die Einwanderung – legal und illegal – ist rückläufig. Den Unterzeichnern mag sie noch nicht rückläufig genug sein, aber sie tun so, als habe sich nichts verändert seit 2015.
Soll Deutschland die EU-Freizügigkeit aufgeben und die eigenen Grenzzäune wieder schließen? Meinen sie das? Warum sagen sie es nicht?
Ich habe nichts dagegen, dass Menschen diese Überzeugungen haben. Ich habe auch nichts dagegen, dass sie sie öffentlich vortragen. Ich bin froh über jede Demonstration, die in der Bundesrepublik genehmigt wird. Ich bin gegen Parteienverbote. Aber ich bin das nicht, weil ich mit allem einverstanden bin. Sondern ich bin das, weil Öffentlichkeit einem hilft, seine Lage zu erkennen.
Das sind Selbstverständlichkeiten, von denen man annehmen könnte, man brauchte sie nicht zu sagen. Tatsächlich aber treten einige der Genannten – die seit vielen Jahren ihre Ansichten verbreiten – auf, als wären sie mutige Tabubrecher, die gegen linke Betonköpfe anrennen.
Die „Gemeinsame Erklärung“ vom 15. März 2018 ist, darauf wies Andreas Montag in der Montagausgabe der Berliner Zeitung hin, geboren aus Kälte und Kalkül. Durch sie wird Deutschland mehr beschädigt als durch die Flüchtlinge. Die Zivilgesellschaft, die sich 2015 meldete, um die Flüchtlinge zu unterstützen, wurde von der damaligen Bundesregierung weitgehend alleingelassen. Was wir seitdem beobachten, ist der Versuch, den Menschen ihre Menschlichkeit zu nehmen.
Den Flüchtlingen, die als eine Deutschland beschädigende Horde betrachtet werden und den Helfern, die als Helfershelfer illegaler Einwanderer angesehen werden. Davon ist in den zwei Sätzen keine Rede? Stimmt. Muss auch nicht. Der Kontext, in den die Erklärung sich stellt, spricht eine klarere Sprache als sie. Die tut so, als stelle sie sich auf den Boden des Rechts. Wo sie das tut, bin ich ganz bei ihr.
Glaubwürdiger wäre diese Haltung freilich, die Erstunterzeichner hätten damals, als bekannt geworden war, dass der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) in Deutschland unterwegs gewesen war, um systematisch Ausländer zu ermorden, auch eine Beschädigung Deutschlands registriert.
Es geht nicht um rechts und links. Es geht noch nicht einmal um Ausländer. Ich bin gegen Ausländer, die in organisierten Banden Einbruchsdiebstahl begehen oder Frauen angrapschen. Ich bin gegen Ausländer, die sich mir auf der Straße in den Weg stellen, weil sie glauben, das sei ihre Straße. Ich bin auch gegen Ausländer, die an einer Tafel andere beiseite stoßen, um schneller voranzukommen.
Aber ich könnte bei dieser Aufzählung das Wort Ausländer genauso gut weglassen. Ich bin gegen Diebe und Belästiger wie ich gegen Mörder und Vergewaltiger bin. Aber zurück zu dem Aufruf. Ein flüchtiger Blick auf die Unterzeichnerliste lässt vermuten, dass bei diesem Thema ein Riss durch Partnerschaften geht. Das macht einen traurig. Dann lacht man wieder, weil man durch amerikanische Soaps verdorben, die komischen Seiten an den Küchentisch-Debatten, auch sieht. Zum Beispiel hat Caroline Sommerfeld-Lethen die Erklärung unterschrieben, nicht aber ihr Mann Helmut Lethen oder Krisztina Koenen, nicht aber ihr Mann Gerd Koenen.
Mich ergreift die Vorstellung dieser Konflikte. Vielleicht bilde ich sie mir nur ein. Ich weiß gar nicht, ob die Paare noch zusammen sind. Ich weiß auch nicht, ob ihre Ansichten in dieser Frage differieren, aber es erinnert mich daran, wie schwer es uns fällt, über das Trennende hinweg im Gespräch zu bleiben.
Ich weiß auch, dass ich von einigen der Unterzeichner immer wieder viel gelernt habe, dass ich mit einem, nachdem wir uns viele Jahre nicht gesehen hatten, immer wieder interessante Diskussionen hatte. Es gehört zu einem langen Leben dazu, dass man weiß, dass Menschen ihre eigenen Wege gehen. Mal gegen- mal miteinander. Mal ist man traurig darüber, mal fühlt man sich bestätigt.
Die Zuwanderung hat das Deutschland, in dem ich nach dem Krieg aufwuchs, nicht beschädigt – sie half, es zu zerstören. Zu unser aller Glück.

Berliner Zeitung, 20.03.2018, Seite 19. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.