von Jens Langer
Wolfgang Hegewald arbeitet als Professor für Rhetorik und Poetik an der Fakultät Design, Medien und Information der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Bevor er 1996 dorthin berufen wurde, leitete er das Studio für Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Im März dieses Jahres wird der Professor emeritiert, womit ein akademisches Gelehrtenleben in Deutschland endet. Könnte man denken.
Die Realität seines Lebens freilich enthält viel mehr und anderes: Verwerfungen, politische Repressionen, editionsfreie Durststrecken und Neuanfänge. Sagen wir es mit den Worten, die der Autor für eine frühere Ehe findet: furios und kurios dieses Leben in all seiner augenscheinlichen Normalität! Wieviel Liebe schwingt mit, wenn eine Beziehung auch nach ihrem Ende so charakterisiert werden kann!
Bei aller akademischen Pflichterfüllung und kreativer Lehre ist Hegewald zuerst, vor allem und fast immer Schriftsteller. So sah’s in jüngerer Zeit vor seinem hier zu besprechenden „Lexikon des Lebens“ aus: „Ein obskures Nest“ (1997), „Fegefeuernachmittag“ (2009), „Die eigene Geschichte“ (2010), „Herz in Sicht“ (2014). Und das war längst nicht alles. Also ist Hegewald auch noch ein fleißiger Literaturwerker.
Die TU Dresden entließ ihn einst nach dem Studium der Medizinischen Informatik ohne Berufsperspektive – wegen, sagen wir, ideologischer Zurückhaltung einerseits und Bedrängung inklusive Promotionsverbot andererseits. Darum und aus anderen guten Gründen studierte Hegewald von 1977 bis 1983 Evangelische Theologie, natürlich nicht an der Universität Leipzig, wie Wikipedia zu wissen vorgibt, sondern am Theologischen Seminar Leipzig, einer „Insel im roten Meer“. In einem gleichnamigen, 2017 erschienenen Erinnerungsband verewigte sich auch Hegewald kurz und knapp als jemand, der – anders sozialisiert – seinen kritischen Blick auch hinter Kirchenmauern nicht aufgibt. Im neuen Lebens-Lexikon gibt es nicht nur einen wundervollen Essay über, besser zu Gottfried Steyer, dem Dozenten für alte Sprachen und Russisch (samt Kirchenslawisch) an dieser Stätte für den sogenannten zweiten Bildungsweg, die liebevoll bis herablassend Mi-Haus (Missionshaus) genannt wurde. Es gibt auch andere Bezüge auf diese Zeit, beispielsweise auf Untermietererfahrungen und ein nicht ganz freiwilliges Zusammentreffen mit einer allwissenden Wahrsagerin. Die wunderbare Hommage auf den Sprachenlehrer aber sollte der Schauspieler und Musiker Christian Steyer zum Anlass für eine Etüde auf seinen Vater nehmen.
Zwischen 1974 und 1977 lagen harte Jahre, die Hegewald nur mit Jobs wie Friedhofsgärtner bewältigte, bis das frühe Promotionsverbot in einem Publikationsverbot einen noch gemeineren Nachfolger fand. Er wurde „Antragsteller“ und reiste nach all den Gemeinheiten 1983 aus. DDR, schäme dich auch wegen dieser deiner Schande! Nur noch so viel zum Orts- und Landeswechsel: Auch in der ehemaligen BRD war nicht alles Banane, und Hegewald bekam seinen Platz in der Gesellschaft nicht geschenkt.
Was heute so ordentlich erscheint und ist, verfügt über eine furiose Vorgeschichte, die manchmal kuriose Züge trägt. Ausgerechnet als Friedhofsgärtner stieß der diplomierte Informatiker auf einen Nobelpreisträger: Karl Adolph Gjellerup (1857–1919), Preisträger von 1917, der Verleihungsmappe und Medaille wegen des Weltkrieges erst im Juni 1918 zugesandt bekam. Der Friedhofsgärtner zur Aushilfe macht uns Heutige auf dem Alten Friedhof in Klotzsche am Grabe Gjellerups mit diesem berühmt gewesenen Schriftstellerkollegen bekannt.
Wir erfahren ebenso Vertrautes und Überraschendes etwa von und über Heinrich Alexander Stoll, Franz Fühmann und Walter Kempowski. Dabei fallen Fairness und Zurückhaltung auf, auch wenn Unerwartetes oder Unangenehmes zu dokumentieren ist. Das geschieht fair, ohne dass sich Hegewald als jemandes Fan outet. Die Leserschaft begegnet auch der speziellen Politik, etwa in Gestalt von Steffen Heitmann, Helmut Kohls einstigem Wunschkandidaten fürs Präsidentenamt. Bei aller Em- und Sympathie übrigens bringt Hegewald uns den Politiker, Juristen und Theologen viel gelassener näher, so scheint mir, als zu Zeiten der öffentliche Turbulenzen, 1991 in einem ZEIT-Beitrag.
Der Autor erscheint in diesem Lexikon unter häufig wechselnden Pseudonymen, aber nicht als Jedermann, sondern als Ausdruck vielfachen Lebens unter verschiedenen Vorzeichen, man mag das so leicht durchschaubare Versteckspiel mögen oder nicht. Zeichnungen von Anke Feuchtenberger lassen ihn, im Helldunkel scharfsichtig mit Brille, erkennungsdienstlich ohne weiteres identifizieren.
Hegewald ist in Dresden-Klotzsche aufgewachsen. Er stimmt einen Hochgesang auf Klotzsche an, ohne in Heimattümelei zu verfallen. So muss es auch Gjellerup gegangen sein. Nun sitzt er nach den Kollegs und Seminaren der Woche am Sonntag in der Kirche von Barum im Landkreis Uelzen und feiert den Gottesdienst mit der Gemeinde, die seine Frau als Pastorin leitet. Damit nimmt er kurios justament den Platz ein, den in vorigen Zeiten, die manche noch kennen, die Pfarrfrau zu besetzen hatte.
Dieses „Lexikon“ ist eine Tour dʼHorizon für Europäer, die Deutsche in Ost und West besser kennenlernen möchten, und für sie selbst natürlich. Der Rezensent hat die formalen Prinzipien des Buches zwar nicht ganz kapiert und lässt sich von einer gescheiteren Leserschaft gern belehren. Aber er hat die angebotene Fülle des Lebens genossen.
Ein Vademecum aktueller und aktualisierter Kulturgeschichte. Kein Blick zurück im Zorn. Vergangenes bewältigt und Teil des Fundaments für gegenwärtiges Leben. Viel Autobiografisches mit Weitwinkel für authentische Lebensentwürfe anderer. Nach der Lektüre höre ich Hölderlins Stimme aus der „Friedensfeier“:
Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.
Und das Zeitbild […],
Ein Zeichen liegts vor uns…
Das nicht wegen der Klassik, sondern wegen der Biografien auf holprigen oder gefährlichen, ansteigenden und glatten Wegen und Umwegen, wo auch immer, sowie schließlich nun der Kommunikation darüber.
Wolfgang Hegewald: Lexikon des Lebens. Mit 27 Zeichnungen von Anke Feuchtenberger, Matthes & Seitz, Berlin 2017, 367 Seiten, 28 Euro.
Schlagwörter: Biografie, Jens Langer, Karl Adolph Gjellerup, Wolfgang Hegewald