von Wolfgang Brauer
Wer in Berlin den Weg in die Neuköllner Oper findet weiß, dass Irritierendes zu erwarten ist. Das kleine Haus hoch oben über der Karl-Marx-Straße kann weder mit großem Orchester noch mit gigantischer Bühnentechnik aufwarten. Die auf güldenen Tabletts herumgereichten Weltstars kann es auch nicht bezahlen. Allerdings zeigt das kleine Neuköllner Schiffchen den Großtankern der City, dass Oper ohne inszenatorische Mätzchen sehr heutig zu machen ist. Die Neuköllner setzen auf junge Leute, die nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Publikum „ausprobieren“ können – und sie tun gut daran. Das Haus ist ein seit Jahrzehnten übersprudelnder Quell überraschendster Kreativität. Die hiesige Kulturpolitik straft so etwas immer noch mit entschieden zu mickrigen Zuschüssen ab.
Aktuell hat sich ein Inszenierungsteam um Ulrike Schwab, Tobias Schwencke und Markus Syperek Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ vorgeknöpft. Die Premiere lief aus guten Gründen erst sechs Wochen nach Weihnachten. Um es vorweg zu sagen: Mit dem Kitsch der meisten auf „Kasse und Kind“ gemachten Festtags-Inszenierungen der großen Häuser hat das Ganze nichts zu tun. Schwab nennt ihr Produkt vollkommen berechtigt „Musiktheater für Erwachsene“ – gleichwohl wird die Oper in ihrem musikalischen Material (fast) komplett gespielt. Dennoch ist alles anders als gewohnt.
Das beginnt mit der Ouvertüre, deren dramaturgische Umsetzung woanders leicht an den Rand der Peinlichkeit führt. Ulrike Schwab verzichtet auf jeglichen Schnickschnack und spielt das Stück von der Platte ein. Die ist ziemlich abgenuddelt, genervt ließ ich den Blick durch die Dunkelheit schweifen, wer denn da nun schon wieder mit Bonbonpapier die Empathie zu ruinieren versucht… Humperdincks Komposition für großes Orchester steigert sich zum Ende hin zum Forte – in dieses hinein kracht plötzlich das Fortissimo von Haubitzen und schweren Feldgeschützen. Beinahe hätte man vergessen, dass nicht das deutscheste aller deutschen Weihnachtsmärchen gegeben werden soll, sondern ein Stück, das Schwab und Kollegen „Wolfskinder“ nannten. Die Einschläge erscheinen dermaßen heftig, dass man meint, Ziegelstaub auf der Zunge zu spüren. Dann Stille. „Suse, liebe Suse…“ mit zaghafter Mädchenstimme. Stille. Aus der anderen Ecke des Bühnenbildes (Rebekka Dornhege Reyes) – die Spielfläche erweist sich als biedermeierlich eingerichtetes Wohnzimmer mit Hochbett – „… was raschelt im Stroh?“ Wie die sieben Geißlein kriechen die sieben Protagonistinnen, Sängerinnen und Streicherinnen wechseln im Verlaufe der Aufführung häufiger gekonnt ihre Aufgaben, aus den unmöglichsten Verstecken hervor.
Wenn in der Humperdinck-Oper jetzt der Rechtfertigungsakt der ihre Kinder aussetzenden Eltern einsetzt, streiten sich bei Schwab erstere um das nicht mehr vorhandene Essen. Eines der Mädchen behauptet, eine Katze gesehen zu haben. Heftiger Widerspruch: „Es gibt keine Katzen mehr! Es sind alle aufgegessen!“ Was hier zu hören ist, ist eine Collage von Erinnerungsfetzen überlebt habender Wolfskinder. Lange verdrängte Erinnerungen, die sich jetzt, im hohen Alter, Geltung verschaffen.
Wolfskinder? Das hat nichts mit Mowgli und der Kolonialromatik Rudyard Kiplings zu tun. Wolfskinder wurden die Kinder genannt, die bei den höllischen Kriegshandlungen des Jahres 1945 in Ostpreußen beziehungsweise den diese begleitenden hilflosen Evakuierungsversuchen ihre Eltern verloren und irgendwie in den litauischen Wäldern und Dörfern landeten. Meine Großtante Edith war ein Wolfskind. Auch sie rettete sich als 13-jähriges Mädchen mit dem Brüderchen an der Hand („Ach Brüderchen, komm tanz mit mir…“) nach Litauen. Uns hatte sie immer erzählt, sie sei einfach voller Angst in die falsche Richtung gelaufen. Nein, die Wahrheit war banaler: In Litauen soll es noch etwas zu essen geben, erzählten die ostpreußischen Kinder einander… Brot und Kuchen. In Königsberg warfen die Russen Löschkalk auf die toten Pferde, damit ja kein Kind sich dort ein Stück Fleisch herausschneide. Erinnerungsfetzen. Auch die Partie des Besenbinders Peter wird von einem der sieben Mädchen übernommen. Auf dem Esstisch der Familie immer heftiger, immer verzweifelter aufstampfend singt es die berühmte Arie vom Hunger, der der beste Koch sei… Da ist kein Jota der Süßlichkeit zu spüren, mit der die Baritone des Opernuniversums diese Partie notorisch auszustatten versuchen.
Und immer wieder der Rollenwechsel. Das Ensemble gönnt weder sich noch dem Publikum einen einzigen Moment Ruhe. Immer wieder Fluchten und Verzweiflungsanfälle, kammermusikalisch – Ulrike Schwab setzt quasi kontrapunktisch das Motiv „Hausmusik“ zu all dem Elend – nur von Cello, Viola und Violine begleitet. Dann Momente seltsam anrührender Stille, der man nicht trauen sollte: Waltrauds Erzählung von der Vergewaltigung und dem Sterben der Mutter geht bis an die absolute Schmerzgrenze des Ertragbaren. Die Erlösung kommt dann von den litauischen Bauern, die oft trotz strengster Verbote der neuen sowjetischen Machthaber den deutschen Kindern beim Überleben halfen. Manchmal halfen die sich auch selbst – so wird erzählt, wie das Haus eines Kindervergewaltigers angezündet wird. Von den anderen Kindern.
Das Zwischenspiel zwischen dem ersten und zweiten Akt wird wie die Ouvertüre voll ausgespielt – auch von der Konserve – und mit den herzzerreißenden Meldungen des Kindersuchdienstes des Roten Kreuzes der Nachkriegsjahre unterlegt. Doch halt, in die Hilferufe der deutschen Kinder mischen sich plötzlich arabische Stimmen. Nein, das ist nicht vordergründig „aktualisiert“. Ulrike Schwab weiß um die Wirkung des richtigen Maßes und hält dieses über weite Strecken ihrer Inszenierung ein. Eine dramaturgische Gratwanderung ist der Übergang zum „Die Hexe ist tot“-Jubelfest der Kinder. Musikalisch durchaus geschickt gelöst hat die Inszenierung hier ihre schwierigsten Momente. Was ist nun mit der Hexe? „Papa, ich bin so froh, wieder bei dir zu sein…“ – „Meine neue Mutter sagte meiner Mama, die mich tatsächlich fand, ich sei gestorben…“ Wieder die Erinnerungsfetzen, wieder die zerkratzte Platte. Keine Idylle in diesem brüchigen Frieden. Es ist kein Zufall, dass derzeit ausgerechnet im Baltikum wieder die Spieldinge der Generäle aus den Arsenalen gekramt werden. Die Geschichte geht weiter. Wer da meint, das alles könne sich nicht wiederholen, liegt dermaßen daneben… Die Rechnung werden wieder die Schwächsten der Schwachen, die Kinder, zahlen müssen.
In den tiefsten Schichten des Herzens angerührt haben mich an diesem großen Neuköllner Opernabend Angela Braun, Isabelle Klemt, Maja Lange, Ildiko Ludwig, Marine Madelin, Laura Esteria Pezzoli und Amélie Saadia. Den Apfel teile ich in sieben Stücke.
Dem verlogensten aller deutschen Märchen habe ich noch nie über den Weg getraut. Seit „Wolfskinder“ weiß ich warum.
Die Neuköllner Oper bemüht sich derzeit um eine Wiederaufnahmeserie in diesem Jahr. Die bisherigen Vorstellungen waren allesamt ausverkauft.
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