21. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2018

Leichtfigurenendspiel

von Bernhard Romeike

Die SPD taumelt weiter. Liegt sie in den aktuellen Umfragen deutschlandweit noch vor der AfD? Oder bereits dahinter? INSA in Erfurt hatte Mitte Februar 15,5 Prozent für die SPD und 16 Prozent für die AfD ermittelt und sah damit letztere bereits vor den Sozialdemokraten. Das sei das falsche Institut, heißt es. INSA gilt in staatstragenden Journalistenkreisen als „rechts“. Der Inhaber, Hermann Binkert, war 36 Jahre CDU-Mitglied, in der früheren Thüringer CDU-Landesregierung Staatssekretär und verkehrt heutzutage in Erfurt auch mit AfD-Leuten. Sind deshalb die Zahlen zu beanstanden? INSA hatte bereits vor den Landtagswahlen 2016 und 2017 die Ergebnisse der AfD genauer vorhergesagt als andere, die noch an ein „Auslaufmodell“ glaubten. Das als renommiert angesehene Berliner Institut „Infratest dimap“ errechnete für den ARD-Deutschlandtrend zur selben Zeit 16 Prozent für die SPD und 15 Prozent für die AfD. Dessen Leute hatten 1001 Personen befragt und eine Schwankungsbreite von etwa drei Prozent angegeben – die entsteht schon rein mathematisch dadurch, dass von tausend Befragten auf 46,5 Millionen Wähler (so viele waren es im September 2017) hochgerechnet wird. INSA hatte 2040 Menschen befragt.
Die SPD veranstaltet dieser Tage nun ihren Mitgliederentscheid über die Große Koalition. Die parteiinternen Gegner versichern landauf, landab, die GroKo würde die SPD – oder was von ihr jetzt übrig ist – verschlingen. Es sei nationale Verantwortung, die SPD zu retten, schon weil sie die älteste noch bestehende politische Partei in Deutschland ist. Und das ginge nur außerhalb einer Bundesregierung. Innere Einkehr sei statt dessen nötig.
Kein Schritt dieser Argumentationsfolge ergibt sich aus vorherigen. Welche der beiden Parteien bei Folgewahlen besser dasteht, ergibt sich aus ihrem politischen Agieren, nicht aus der GroKo an sich. Sebastian Kurz hatte aus der schwächeren Partei heraus agiert, am Ende jedoch den sozialdemokratischen Kanzler ausmanövriert und wurde schließlich neuer Kanzler Österreichs. Aus der historischen Vergangenheit einer Partei ergibt sich nur Tradition, schlimmerenfalls Nostalgie, wenn sie nicht in der Lage ist, sich den Fragen der Zukunft zu stellen. Und schließlich ist eine politische Partei kein Mönchsorden; innere Einkehr bringt keine Wähler. „Opposition ist Mist“, hat mal ein sozialdemokratischer Parteivorsitzender gesagt. Vor allem hat eine Partei aus der Regierungsposition heraus größere Spielräume, politisch zu wirken – wenn sie es denn handwerklich versteht. Während die schärfste Waffe der Opposition die Pressemitteilung ist, gefolgt von der Kleinen Anfrage. Die Linkenfraktion im Deutschen Bundestag weiß ein traurig Lied davon zu singen, während der Berliner Kultursenator schon qua Amt ständig in den Medien ist und weiß, wie es sich anfasst, beliebtester Politiker der Stadt zu sein.
Wenn also von Erneuerung die Rede ist und der Schwäche der SPD, sollte die nicht auf Angela Merkel schauen, sondern auf Schröder und Müntefering. Die haben mit ihrer Politik der neoliberalen Demontage das Band zu den sozial Schwachen zerschnitten, deren Schutzmacht die SPD einst war. Das Lob der Christdemokraten und Merkels dafür ist vergiftet; es sind vertauschte Rollen: Die Sozialdemokraten hatten in Deutschland eine Rolle übernommen, die in Großbritannien Margaret Thatcher inne hatte, während Merkel den Blair spielt, immerhin Polit-Bruder der Sozialdemokraten, der zu seiner Zeit jene Sozialkürzungen etwas abgemildert hatte, ohne sie zurückzunehmen. Martin Schulz hatte im kurzen Wonnemonat seiner Einhundertprozenteuphorie signalisiert, er würde mit der Schröder-Politik brechen wollen. Spätestens als jener höchstselbst im Wahlkampf für die SPD auftauchte, war die Sache als Täuschung zur Kenntlichkeit gebracht und die Partei stand bedeppert da, wie zuvor. Noch heute hocken die „Agenda 2010“-Helden in wichtigen Ämtern, vom Bundespräsidenten bis in die Parteispitze. So lange jener Bruch nicht konzeptionell und personell erfolgt, bleibt „Kevin allein zu Haus“ höchstens als Naturtalent für übermorgen, nicht als bewegende Kraft für hier und heute.
Folgt das Argument, der Koalitionsvertrag sei nicht „links“ genug. Wie soll denn aus einer bürgerlichen Wählermehrheit eine linke Politik resultieren? Dass Christdemokraten, FDP und AfD zusammen 56,2 Prozent der Stimmen erhielten, muss nicht wieder besonders betont werden. Auch dass die drei Parteien in ihren neoliberalen wirtschaftspolitischen Grundvorstellungen weitgehend übereinstimmen, darf vorausgesetzt werden. Die Linkspartei profitiert nicht im Geringsten von der Schwäche der SPD. Die Protagonisten des linken Flügels der SPD und der Grünen wie die der Linkspartei schwadronieren von der Wiedererringung einer linken Mehrheit. Wir sollten ehrlicher Weise davon ausgehen, dass es die in den nächsten zwanzig Jahren nicht geben wird. Die wurde von Schröder und dem rechten Flügel der SPD verspielt und kommt so bald nicht wieder. Die jetzigen Koalitionsverhandler der SPD haben angesichts der Schwäche Merkels das Optimum dessen herausgeholt, was an „kleinen“ Maßnahmen in Sachen Soziales, Mieten, Arbeitsrecht und Rente möglich war.
Die gebratenen Tauben der erwünschten großen Veränderung werden nicht geflogen kommen. Und es sind nicht einmal mehr die Spatzen in der Hand. Platzt diese GroKo, wird es auch all das Kleinteilige in den nächsten Jahren nicht geben. Die Umfrageergebnisse zugunsten der AfD sind kein Ausrutscher, sondern der säkulare Trend. Vorzeitige Neuwahlen werden ihn verstärken. Auch deshalb, weil die Sozialdemokraten in den Koalitionsverhandlungen mit der Auseinandersetzung um den Familiennachzug für subsidiär geschützte Flüchtlinge die Sozialthemen mit einer sachfremden Thematik verbunden hatten. Das war zwar Balsam für die Seelen der akademisch gebildeten, weltoffenen städtischen Jugend, die ohnehin für offene Grenzen und eine dauerhafte „Willkommenskultur“ eintreten, signalisierte der Mehrheit der Bevölkerung aber, dass das Flüchtlingsthema doch nicht vom Tisch ist. Obwohl die Kanzlerin und die Spitzen beider GroKo-Parteien seit Monaten erklären, diese Frage sei erledigt, man habe alles im Griff.
Klaus von Dohnanyi wird in diesem Jahr 90 Jahre alt. Er war für die SPD Staatssekretär in der ersten GroKo Ende der 1960er Jahre, Bundesminister unter Willy Brandt und in den 1980er Jahren Erster Bürgermeister Hamburgs. Er äußerte sich jetzt mehrmals zum Zustand der SPD und ist überzeugt, dass sich die SPD wieder berappeln wird. Vor allem meint er, die Wahl von Martin Schulz sei „ein kardinaler Fehler“ gewesen, ebenso seine Wahl mit 100 Prozent. Der Mann kannte die Partei nicht wirklich und auch die Parteistatuten nicht, sei „kein Mann mit einem politischen Instinkt“, „die falsche Person für diese Situation“ gewesen. Richtig ist, dass das Agieren von politischen Parteien in erheblichem Maße von der Qualifikation und der Ausstrahlung von Personen abhängt. So hatten Schulz’ definitive Erklärungen erst für Opposition, dann für GroKo, nicht in eine Regierung Merkel gehen zu wollen, dann doch gern Außenminister zu werden, die Glaubwürdigkeit nicht nur seiner Person, sondern auch seiner Partei ramponiert. In diesem Sinne ist es gut, dass er weg ist, meint nicht nur von Dohnanyi.
Der bezieht sich auf historisch herausragende SPD-Gestalten wie Willy Brandt und Karl Schiller. Zu nennen wären auch Herbert Wehner und Helmut Schmidt. Im Vergleich zu diesen „Riesen“, um ein Marx-Wort zu persiflieren, haben wir es heute allesamt mit Zwergen zu tun, die auf deren Schultern stehen. Das gilt nicht nur für Schulz. Die SPD scheint in einem Leichtfigurenendspiel. Ob aber die CDU noch ein Schwerfigurenendspiel mit Dame zu spielen vermag, ist nicht ausgemacht. Soziale Gestalten wie Gesellschaften oder politische Parteien können plötzlich und unerwartet neue Kräfte finden. Und dann wird alles ganz anders. Aber manchmal braucht es zwanzig Jahre.