von Thomas Parschik
Man schreibt das Jahr 1526. Ein zehnjähriger Junge sitzt im Tragekorb eines Pferdes, das ihn nach Stambul bringt. Seine Heimatstadt Visegrád und seine Eltern wird er nie wiedersehen. Die Beamten des Sultans haben ihn bei der Knabenlese auserwählt, dem Sultan zu dienen. Jahrzehnte später stiftet er, Sokollu Mehmed Pascha, Großwesir des Osmanischen Reiches, seiner Geburtsstadt eine Brücke und ein Karawan-Serail, eine Handelsstation. Damit beginnt der Roman „Die Brücke über die Drina“ von Ivo Andric.
Der Autor wurde 1892 in Dolac geboren. Er schrieb das Buch während des Zweiten Weltkriegs in Belgrad. „Die Brücke über die Drina“ ist der erste Teil der 1945 erschienen „Bosnischen Trilogie“ und bekannter als die Folgebände „Wesire und Konsuln“ und „Das Fräulein“. Im Jahre 1961 erhielt Andric „für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet,“ den Nobelpreis für Literatur. 1975 starb Andric in Belgrad.
Zahllose Nebendarsteller tauchen im Roman auf und verschwinden wieder. Die Brücke bleibt die einzige Konstante in einer Welt der permanenten Veränderung.
Der Architekt Yusuf Sinan plant den Bau und beaufsichtigt die Arbeiten. Ein korrupter Beamter des Wesirs zwingt die Einwohner unbarmherzig zu Zwangsarbeit und unterschlägt Geld. Manche Arbeiter verlieren bei den Bauarbeiten Gesundheit und Leben. Die Bevölkerung setzt sich zur Wehr. Ein besserer Beamter vollendet das Werk. Schließlich überspannt die Brücke mit elf Bögen und einer Länge von 180 Metern den Fluss. Die Visegráder haben solch ein monumentales Bauwerk noch nie zu Gesicht bekommen. Sie lobpreisen den Stifter in einer Inschrift „Siehe Mehmed Pascha, der größte unter den Weisen und Großen seiner Zeit, erfüllte das Gelöbnis seines Herzens, und mit seiner Fürsorge und seinem Eifer erbaute er eine Brücke über den Drinafluss. […].“
1579 fällt Sokollu Mehmed Pascha einem Attentat zum Opfer. Die von ihm gestiftete Brücke wird Jahrhunderte überdauern. Sie befördert den Handel Visegrads. Der Wohlstand der Stadt wächst. Christen, Muslime und Juden, Bosnier, Türken und Österreicher, Kaufleute, Verurteile, glückliche und unglückliche Verliebte, Soldaten, politische Visionäre und Flüchtlinge passieren die Brücke.
Als das Bauwerk von einem Hochwasser fast vollständig überflutet wird, sammeln sich die Visegrader moslemischen, christlichen und jüdischen Glaubens am Ufer. Der Anblick der entfesselten Wassermassen lässt sie für einige Stunden gesellschaftliche Schranken und Vorbehalte vergessen. Die Brücke hält stand. Während serbischer Unruhen gegen die osmanische Herrschaft wird eine Wachmannschaft auf der Brücke stationiert. Der Weg manches Reisenden, der zu unglücklicher Zeit den Fluss queren möchte, endet hier. Eine verzweifelte Braut stürzt sich an ihrem Hochzeitstag mit ihrem Pferd von der Brücke in die Drina.
Das Osmanische Reich verliert immer mehr Territorien. Schließlich bleiben die Zahlungen zur Erhaltung des Karawan-Serrail aus. Die Handelsstation verfällt allmählich. Auf dem Berliner Kongress von 1878 wird Bosnien-Herzegowina Österreich-Ungarn zugeschlagen. Wer Osmane bleiben will, verlässt die Stadt über die Brücke.
Die k.u.k.-Armee lässt die Ruine der Handelsstation abreißen und errichtet an ihrer Stelle eine Kaserne. Visegrád wird an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Es gibt elektrisches Licht. Man baut ein großes Hotel. Ein Betrunkener läuft auf dem schmalen Brückengeländer zum anderen Ufer und begründet damit eine Legende, die die Schulkinder einander jahrelang erzählen. Ein Rekrut verliebt sich während seines Wachdienstes auf der Brücke in eine junge Einheimische. Bewusst zieht sie seine Aufmerksamkeit auf sich, um einem gesuchten Hajduken die Flucht nach Serbien zu ermöglichen. Bevor er für seine Achtlosigkeit vor das Garnisonsgericht gestellt wird, schießt sich der Soldat eine Kugel in den Kopf. Als 1914 die Front heranrückt, sprengt die österreichische Besatzung drei der Brückenbögen.
Soweit Andrics Roman.
Die Brücke wurde bis 1940 rekonstruiert. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie erneut beschädigt und bis 1951 ausgebessert. Während des Bosnienkrieges im Frühjahr 1992 ermordeten serbische Milizionäre auf der Brücke moslemische Zivilisten und warfen die Leichen in den Fluss.
Seit 2007 ist die Brücke Weltkulturerbe der Unesco.
Schlagwörter: Die Brücke über die Drina, Ivo Andric, Mehmed-Pasa-Sokolovic-Brücke, Sokollu Mehmed Pascha, Thomas Parschik, Visegrád