von Heerke Hummel
Nach siebenjähriger Tätigkeit in China im Auftrag einer deutschen staatlichen Schulbehörde legte Jörg Drenkelfort nun ein Buch vor, in welchem er über seine Erfahrungen, Erlebnisse und Erkenntnisse berichtet. Sein offizieller Status in China öffnete ihm manche Tür, sein allseitiges Interesse an dem bevölkerungsreichsten Land der Erde mit seiner ältesten Kultur erschloss ihm tiefe Einblicke in die chinesische Gesellschaft von heute, in ihr Denken und ihre Probleme, sein verbindliches, einfühlsames Auftreten – wie aufgrund seiner Schilderungen zu vermuten ist – sicherte ihm das freundliche Entgegenkommen der Menschen im Reich der Mitte. Das Produkt: Eine spannende, zum Nachdenken anregende Lektüre für die interessierte Leserschaft.
Drenkelfort schildert seine überraschenden Eindrücke als Neuankömmling in China, führt uns wichtige Lebensabschnitte eines Chinesen vor Augen, macht seine Leser bekannt mit den geistigen Säulen der chinesischen Gesellschaft, vermittelt Vorstellungen von ihrer Mobilität und von den Freizeitbeschäftigungen. Er erklärt die innere Ruhe und Ausgeglichenheit der Chinesen (trotz aller offensichtlichen Widrigkeiten), ihren Sinn fürs Praktische und ihr Bedürfnis nach Harmonie – im Unterschied zu uns Westlern, bei denen seit den Zeiten der alten Griechen sich alles als Wettbewerb geriert, sich in Auseinandersetzungen und Kämpfen regelt. Der Autor führt seine Leserschaft mit den wichtigsten Festen durch das chinesische Jahr und nimmt sie mit auf seine Reise durch Stadt und Land. Er zeigt, dass für Chinesen Freundschaft nicht das Gleiche bedeutet wie für uns Europäer und gibt Tipps für die Anbahnung geschäftlicher Beziehungen, um schließlich zur aktuellen chinesischen Politik unter Xi Jinping Stellung zu nehmen.
Dem Leser wird bei all dieser Breite erlebte Wirklichkeit dargestellt. Das bedeutet auch, dass ihm die hohe Dynamik der chinesischen Gesellschaft vor Augen geführt wird. Sie zeigt sich ihm mancherlei Hinsicht. Als zeitweiliger Lehrer und dann auch Verantwortlicher für den Deutsch-Unterricht in der ganzen Provinz Sichuan kann der Autor sehr detaillierte Einblicke in das chinesische Schulwesen vermitteln, in den Arbeitsalltag der Schüler, der von der Frühe bis weit in den Abend reicht. Er beschreibt den von Familie und Schulsystem betriebenen Aufwand und erzeugten Druck, aber auch den Willen und Eifer der Kinder und Jugendlichen selbst. Geistige Grundlage dafür ist die im Bewusstsein der chinesischen Gesellschaft allgegenwärtige Philosophie des Konfuzius (eine der geistigen Säulen – neben dem Daoismus mit seiner ganzheitlichen, dialektischen Betrachtungsweise der Welt, und dem Buddhismus) mit den von diesem formulierten „fünf Tugenden“: Mitmenschlichkeit, Rechtschaffenheit, Sittlichkeit, Klugheit und Zuverlässigkeit. Doch zeigt Drenkelfort auch, wie dieses Bewusstsein bei den jungen Menschen mit zunehmendem geschäftlichem Erfolg und Wohlstand zu erodieren beginnt und von westlichen Wertvorstellungen beeinflusst wird. „Die allgegenwärtige Modernisierung der Welt“, schreibt er, „heißt auch in China ‚Verwestlichung‘: Deutsche Autos, Gucci-Taschen, Starbucks, I Phone. Nur in diese Richtung scheint der Weg zu gehen, ohne Zögern, ohne Zurück. Alternativlos sozusagen. Doch: Ohne Traditionen gibt es keine zivilisierte Gesellschaft. Das weiß auch der aktuelle Staatspräsident, Xi Jinping, und versucht, chinesische Geschichte und Kultur zu stärken und zu einem neuen (alten) Glanz zu verhelfen.“ Die westliche Presse, heißt es weiter, kritisiere dies mit Begriffen wie Nationalismus, Abschottung oder Einigeln. Und sie sehe nicht, dass wir im eigenen Land schon lange dabei sind, unsere christlich-abendländischen Werte und Traditionen ohne Wenn und Aber einer grenzen- und ziellosen Beliebigkeit zu opfern. Es ist, so möchte man als Leser ergänzen, die Grenzen- und Ziellosigkeit einer von Gier getriebenen Kapitalverwertung – in ihrer ganzen Beliebigkeit und Rücksichtslosigkeit!
Nach Meinung des Autors verfolgt Xi Jinping einen „chinesischen Traum“, der die harmonische Gesellschaft – orientiert an den seit Jahrtausenden funktionierenden, sinnvollen Lebenshilfen chinesischer Philosophen und Denker – in den Mittelpunkt stellt und dem amerikanischen Way of Life als Alternative gegenüber stehen soll. Und Drenkelfort fragt: „Kommt er damit in der Bevölkerung an? Wird er Erfolg haben können?“ Seine Antwort: Entscheidend werde sein, wie sich vor allem die Wirtschaft in den kommenden Jahren und Jahrzehnten entwickeln wird und ob die Erfolge auch spürbar bei den Menschen ankommen. Schon jetzt nehme die aufkommende Mittelklasse den Wohlstand an, ohne die Politik in Frage zu stellen. Klare Ziele und Werte, Politiker und Unternehmer als Vorbilder sowie die Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung seien weitere entscheidende Aspekte, um das Land zu stabilisieren und dem konfuzianischen Ideal einer harmonischen Gesellschaft näherzukommen. Immerhin habe Xi – im Unterschied zu uns Europäern – für sein Land und seine Bewohner ein Konzept bereit, eine Vision: Eine Welt, in der man friedlich nebeneinander lebt, in der man sich gegenseitig hilft, statt sich zu bekämpfen, eine Welt in Harmonie und Sicherheit. Auch hier möchte man ergänzend hinzufügen: Für den Rest der Welt ist das sicherlich auch eine annehmbarere Perspektive als das frühere Gespenst einer proletarischen Weltrevolution.
Aus einer ganz anderen Perspektive wurde die Situation in China kürzlich bei einer Veranstaltung der Hellen Panke (Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin) betrachtet. Ralf Ruckus, Publizist und Übersetzer, referierte da über „Neue Ära oder baldiger Zusammenbruch in China?“ aus der Sicht (linker) chinesischer Oppositioneller, insbesondere der Arbeiterschaft, beziehungsweise ihrer Wortführer, und deren Kämpfe gegen unsägliche Ausbeutung, für soziale Verbesserungen. Wie zu erwarten zeichnete er – bei aller Anerkennung der ungeheuren Dynamik des Landes – ein sehr viel weniger optimistisches Bild vom Reich der Mitte; vor allem wegen des sozialen Sprengstoffs einer gewaltig zunehmenden Spaltung der chinesischen Gesellschaft in arm und reich. Sogar von einem Neomaoismus war die Rede, der sich gegen den Neoliberalismus in China zur Wehr setze. Interessant war nicht nur diese andere („marxistische“, „politökonomische“) Sichtweise auf das Phänomen China, sondern ebenso die Reaktion der Zuhörerschaft, die einen bemerkenswerten Gegenwind blies: Von Zusammenbruch – und gar schon baldigem – könne überhaupt nicht die Rede sein, war die einhellige Meinung von Damen und vor allem Herren, die zum Teil jahrelange Kontakte verschiedenster Art nach China pflegen beziehungsweise dort gelebt und gearbeitet haben. Neben dem gigantischen ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Zukunftspotential dieses Landes wurde, wie auch von Drenkelfort, auf die Flexibilität seiner Führung hingewiesen; und auf ihre prinzipielle Fähigkeit – dank des unbedingten Primats der Politik über die Ökonomie –, den sozialen Gegensätzen und Konflikten gegenzusteuern.
Gerade an solcher Fähigkeit mangelt es nicht nur uns Deutschen, sondern uns Europäern überhaupt – infolge unserer Geschichte und unseres geistigen Erbes, worauf auch Denkelfort in seinem Buch hinweist. Seit den Versuchen Karls des Großen, ein dauerhaftes europäisches Großreich zu schaffen, ist unser Kontinent in zahlreiche Staaten und kleinste staatliche Gebilde mit eigenen Sprachen, Traditionen, Kulturen und so weiter zerfallen. Einerseits hat dies eine bedeutende Vielfalt hervorgebracht, den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt stimuliert, damit frühzeitig auch die bürgerliche, kapitalistische Produktionsweise und Gesellschaft herbeigeführt. Doch andererseits behindert diese Zerrissenheit staatlicher politischer Macht heute die Möglichkeit, den über die staatlichen Grenzen hinausgewachsenen, globalisierten kapitalistischen Markt mit all seinen Widersprüchen zu steuern und so die sozialen Gegensätze und Konflikte einzuschränken, also das Prinzip „Kapitalverwertung“ als ökonomischen Regulator mehr und mehr durch eine vernünftige, sachlich ziel- und zweckgerichtete Ordnung der Märkte sowie Regulierung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses nach dem Willen der Gesellschaft zu ersetzen. Wenn also Ralf Ruckus auf besagter Veranstaltung kritisch feststellte, die heutige Führung der KP Chinas berufe sich – trotz der Bezeichnung „Kommunistische“ im Namen der Partei – so gut wie nicht mehr auf Karl Marx und Friedrich Engels, so muss man doch sehen, dass, wenigstens für China, Konfuzius und der Daoismus wohl nicht weniger bedeutende geistige Grundlagen zur Gestaltung einer neuen, zukunftsorientierten Gesellschaft bieten. Denn mit ihrem Humanismus und ihrer dialektischen, eigentlich auch materialistischen Betrachtungsweise der Welt (als außerhalb und unabhängig von unserem Bewusstsein sich entwickelnd) widersprechen sie durchaus nicht marxistischem Denken. Gerade der Daoismus bestätigte sich mit der Entwicklung der westlichen Industriestaaten während des ganzen vorigen Jahrhunderts. Die dortigen Gesellschaften veränderten sich ohne die von Marx und Engels erwartete Umgestaltung durch das Proletariat, sozusagen durch die innere Entwicklung, Reifung und Veränderung der Gegensätze selbst, beispielsweise Kapital und Arbeit, infolge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, dessen tragende Kraft eine ganz neue, von Marx und Engels noch gar nicht zu untersuchende soziale Schicht geworden war: die wissenschaftlich-technische Intelligenz. Und deren gesellschaftliche, politische Bedeutung wurde von der kommunistischen Bewegung in der Welt infolge eines dogmatisierten, auf die Arbeiterklasse (bis zum Ende des „Realsozialismus“ als „Hauptproduktivkraft“ hofiert) setzenden Marxismus sträflich unterschätzt.
Nur der Umbruch im Osten ging auf das Denken der Klassiker des Sozialismus zurück – auch wenn er allgemein als das dominierende Phänomen des 20. Jahrhunderts wahrgenommen wird. Damit hatte der Marxismus seine aktuelle Aufgabe und Funktion als Ideologie des Proletariats weitgehend erfüllt. Was die Welt heute braucht und erlebt ist die Herausbildung eines neuen Denkens auf alten, bewährten Fundamenten. Zu diesen gehört zweifellos auch der Marxismus, einschließlich und besonders des ökonomischen Denkens von Karl Marx, dessen Geburtstag sich am 5. Mai zum 200. Mal jährt. Seine ökonomische Theorie gilt es aber – entsprechend dem Wesen der heutigen Realität – weiterzuentwickeln zu einer allgemeinen Reproduktionstheorie der Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Solches, zwischen Erscheinung und Wesen ökonomischer Beziehungen unterscheidende Denken ist eine Herausforderung für die Wirtschaftswissenschaft. Und es muss – als Konsequenz – aller Arbeit wieder vernünftige Ziele und Zwecke im Rahmen einer beispielsweise europäischen Regionalisierung von Politik und Ökonomie geben entsprechend den Bedürfnissen der Gesellschaft als Ganze und gemäß den ökologischen Erfordernissen. Es muss zu einem unbedingten Primat der Politik über die Ökonomie führen, also den heutigen Lobbyismus quasi umkehren, die Verwertung von Kapital als destruktiver Selbstzweck von Arbeit wenigstens schrittweise überwinden und sich in seinen Entscheidungen am Verhältnis von Aufwand und Nutzen für die Gesellschaft orientieren. Dieses neue Denken muss als Politik die ökonomische Vernunft zum gesellschaftlichen Willen machen. Um solche für die Zukunft der Völker wesentlichen Fragen müsste es bei Richtungsentscheidungen im Zuge von Wahlen zu den Parlamenten in Europa gehen – anstatt sich der Steuerung durch ein sinnwidriges, auf den Kapitalmärkten wirkendes Prinzip blind zu unterwerfen und auf Parteitagen oder bei Koalitionsvereinbarungen die Arbeit von Fachverbänden zu erledigen.
Jörg Drenkelfort hat so weit reichende Überlegungen nicht im Auge und nicht bezweckt. Aber sein Buch ist so anregend, dass eben jedermann sich auch seine eigenen Gedanken machen wird.
Jörg Drenkelfort: Sieben Jahre China – Erfahrungen aus dem Reich der Mitte, Eigenverlag (53113 Bonn, Augustusring 22), 2017, 25,00 Euro.
Schlagwörter: China, chinesische Gesellschaft, Heerke Hummel, Jörg Drenkelfort, Konfuzius, Ralf Ruckus