21. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2018

Sozialdemokratische Schwankungen

von Bernhard Romeike

Der Suizid aus Angst vor dem befürchteten Tod hat nicht stattgefunden. Bürgerliche Großmedien, die seit Wochen schreien, dieses Deutschland brauche endlich eine stabile Regierung, verbreiten nun Häme über den Sonderparteitag der SPD, auf dem die Signale auf Große Koalition gestellt wurden. Ist „Lügenpresse“, oder politisch korrekt: „Sie lügen wie gedruckt“, nur „Fake News“ oder auch ständige verlogene, unaufrichtige Kommentierung?
Die anderen Parteien kommentieren rein parteitaktisch. FDP-Lindner erwartet in den GroKo-Verhandlungen „Rückschritte“. Weil die Arbeitgeber wieder paritätisch in die Krankenversicherung einzahlen sollen oder wegen der angekündigten Grundrente? Die Grüne Göring-Eckardt vermisst sozialdemokratischen „Enthusiasmus“. Unter welcher Perspektive? Weil die Grünen bei den „Jamaika“-Verhandlungen so enthusiastisch und voller Eifer waren? AfD-Meuthen redet von „trudelndem Blindflug“ der SPD. Hier ist wohl eher der Wunsch der Vater des Gedankens. Die Linken-Spitze sieht eine Niederlage für alle progressiven Kräfte links der CDU. Hier fragt sich: Wer soll das sein? Ja, mehr noch: War die „Niederlage“ nicht eher das Bundestags-Wahlergebnis am 24. September 2017 und der jetzige SPD-Parteitag nur Konsequenz dessen?
Die politische Klasse in Deutschland, die Medien – nicht nur die bürgerlichen – und die Mainstream-Politikwissenschaft sind immer noch nicht in der Lage, das Wahlergebnis und seine Folgen wirklich zu verstehen. Da in dieser schnelllebigen Zeit immer wieder auf Vergessen gesetzt wird, sei noch einmal erinnert: die Christdemokraten erhielten 32,9 Prozent und hatten 8,6 Prozent verloren, die Sozialdemokraten bekamen 20,5 Prozent und verloren 5,2 Prozent, die AfD wurde mit 12,6 Prozent auf Anhieb drittstärkste Partei und gewann 7,9 Prozent hinzu, die FDP kam mit 10,7 Prozent wieder in den Bundestag und erzielte ein Plus von 5,9 Prozent, die Linken bekamen 9,2 Prozent (plus 0,6) und die Grünen 8,9 (plus 0,5) Prozent. Das bedeutet, klassische Wunschvarianten scheiden aus: Schwarz-Gelb (abgesehen davon, dass Christian Lindner mit Angela Merkel nicht will und auf die junge Generation in der CDU hofft) und SPD-Grün. Selbst für eine „Ampel“ (SPD mit Gelb und Grün) und Rot-Rot-Grün reicht es nicht. Es gingen nur „Jamaika“ (Christdemokraten mit Gelb und Grün), die „bürgerliche“ Verbindung von Christdemokraten, FDP und AfD (was alle drei bisher ausschließen) und die „GroKo“. Nach dem Scheitern der „Jamaika“-Gespräche bleibt also nur letztere.
Oder Neuwahlen. Nur zeigen die Umfragen der Forschungsinstitute zur „Sonntagsfrage“ in der zweiten Januarhälfte keine wirkliche Veränderung gegenüber dem Wahlergebnis vom September 2017. Mit zwei Ausnahmen: die AfD steigt bei einigen Instituten auf 14 Prozent und die SPD sinkt seit den innerparteilichen Querelen um die Frage: „GroKo“ oder „NoGroKo“ auf 18 Prozent. „Kevin allein zu Haus“ erreicht praktisch-politisch das Gegenteil dessen, worum es ihm dem Bekunden nach geht. Zu betonen also ist: Die reale Gefahr weiterer Marginalisierung der Sozen folgt nicht aus einer weiteren GroKo, sondern aus ihrer Unentschlossenheit.
Es war politischer Unsinn, am Wahlabend lauthals zu verkünden, die SPD werde auf keinen Fall in eine neue Regierung mit der Merkel-CDU gehen. Es musste den Politikstrategen aller Parteien klar sein, dass mit sechs Fraktionen im Bundestag und diesem Wahlergebnis eine Regierungsbildung schwieriger wird denn je. Es war ebenfalls Unfug, nach dem Scheitern der „Jamaika“-Sondierungen dieses Nein zu wiederholen, obwohl klar war, dass Bundespräsident Steinmeier mahnt: Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, muss sich dem stellen, wenn diese Verantwortung auf ihn zukommt. Dann änderte die Parteiführung der SPD den Kurs und der „Zwergenaufstand“ in der Partei begann. Die interessante demokratie-theoretische Frage ist nur, weshalb eigentlich die Entscheidung von 600 Parteitagsdelegierten mehr wiegt, als die von 9,5 Millionen SPD-Wählern, die wollten, dass diese Partei regiert.
Es gibt keinen zwingenden Zusammenhang zwischen „innerer Erneuerung“ einer Partei, sei es organisatorisch, politisch oder/und programmatisch, und ihrer Regierungstätigkeit. Gewiss hatten Bundeskanzler Schmidt angesichts der von ihm angeregten Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen Anfang der 1980er Jahre und Kanzler Schröder mit seiner „Agenda 2010“ in den 2000er Jahren jeweils die Partei zu erpressen versucht, sie sollten das Regierungshandeln nicht durch nörgelnde Debatten stören. Das aber war ein Spezifikum der SPD. Ergebnis waren erst die Abspaltung von der Sozialdemokratie in Gestalt der Grünen, dann die Wiederauferstehung und Westausdehnung der Linken, was sie ebenfalls zu einer dauerhaften Erscheinung des deutschen Parteilebens machte. Allen Sozialdemokraten, die jetzt innere Einkehr statt Regieren fordern, scheint dies in Erinnerung zu sein. Das Problem ist nur, wer den Niedergang der SPD von über 20 Millionen Wählern 1998 auf unter 10 Millionen 2017 verstehen will, darf nicht auf Angela Merkel und die GroKo schauen, sondern muss auf die von Gerhard Schröder und Franz Müntefering praktizierte Politik des Sozialabbaus sehen. Die in der Sondierung angekündigte Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist keine Korrektur einer Merkel-Politik, sondern früheren sozialdemokratischen Regierungshandelns. Nebenbei: Sebastian Kurz hat in Österreich gerade eine grandiose innere Modernisierung der Österreichischen Volkspartei aus der Regierung heraus vollzogen und wurde dabei vom Vizekanzler zum Bundeskanzler. Kurzum, es kommt darauf an, was man wie macht, nicht wie man erklärt, dass man etwas machen wollen sollte.
Auch das Argument der konkurrierenden Parteien, bei einer neuen GroKo handele es sich um eine „Koalition der Verlierer“, ist als Tatsachenfeststellung richtig, als politische Aussage aber nichtssagend. Angela Merkel hatte nach der Bundestagswahl erklärt, sie habe einen erneuten Regierungsauftrag. Das war insofern richtig, als dass die Christdemokraten wieder relativ stärkste Partei wurden. Eine andere Regierungsbildung ist nicht zu sehen.
Im Forum zur ARD-Diskussionsrunde von Anne Will am 21. Januar fand sich der Eintrag: „Die Sozialdemokraten haben im August 1914 ’nationale Verantwortung‘ übernommen und für die Kriegskredite gestimmt. Die Genossen Ebert und Noske haben 1919 in diesem Sinne mit dem Generalstab und den Freikorps kooperiert, um ‚Ruhe und Ordnung‘ wiederherzustellen. Kanzler Schmidt veranlasste die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland Anfang der 1980er Jahre, Kanzler Schröder führte Deutschland 1999 gegen Jugoslawien in den ersten Krieg nach 1945. Im Vergleich dazu ist die jetzige Beteiligung an der Regierung Merkel eine kommode Angelegenheit. Und sie entspricht der Tradition nationaler Verantwortung.“ Darauf entgegnete ein anderer Kommentierer: „Sie sollten Ihren Beitrag als ‚Satire‘ kennzeichnen, sonst wird er noch missverstanden.“ Das ist noch die Frage.