von Ulrich Kaufmann
Am 11. Dezember 2017, neun Tage nach seinem 89. Geburtstag, ist der Literaturwissenschaftler, Hochschullehrer, Editor, Kritiker und Essayist Hans Richter gestorben. Ungezählten Studenten, jüngeren Wissenschaftlern und Lesern vermittelte er seine Liebe zur Literatur, gab sein Wissen engagiert weiter, lehrte genaues Lesen. Zu Recht galt der Unermüdliche als Stilist. Von seinen „Schülern“, zu denen sich Sigrid Damm, Frank Quilitzsch und viele andere zählten, verlangte er einen sorgsamen Umgang mit der Sprache.
Oftmals äußerte sich Richter zur Gegenwartsliteratur, namentlich zur Lyrik. Er suchte den direkten Kontakt zu den Autoren und schickte seine Texte in der Regel vor ihrer Drucklegung an die von ihm besprochenen Dichter. Als 1970 Wulf Kirsten mit seinem Lyrikband „Satzanfang“ debütierte, gehörte Hans Richter zu den ersten Rezensenten.
Der 1928 in Reichenberg, dem heutigen Liberec, geborene Sohn eines Angestellten besuchte ebendort ein Gymnasium. Seine Liebe zur Literatur, erzählte Richter, erweckte schon Jahre zuvor seine fast erblindete Großmutter, die Balladen vortrug und Märchen erzählte. Einer seiner Jugendträume war es, Schauspieler zu werden. Richter aber musste in den Krieg, erlebte die amerikanische Kriegsgefangenschaft.
So konnte er erst 1947 in Weimar sein Abitur ablegen. Zunächst war er als Oberschulhelfer tätig und nahm im Gründungsjahr der DDR ein Germanistikstudium in Jena auf. Der gerade gegründete Staat, für den er sich aus Überzeugung über Jahrzehnte einsetzte, schien ihm eine Alternative zu dem Durchlebten zu sein. „Den Antifaschismus hat mir […] übrigens niemand anders verordnet, als gerade die Faschisten selber, indem sie mich kalt aus meiner Kindheit rissen und mir meine Jugendjahre verdarben.“
Trotz beträchtlicher Lehr- und Leitungstätigkeit verteidigte der junge Wissenschaftler 1957 seine Promotionsschrift zu Gottfried Keller. Das Manuskript der Buchfassung von 1966 schickte er dem Dichter Adolf Endler, der ein positives Urteil abgab. Anders als 1970, als Endler Richter für dessen Buch „Verse, Dichter, Wirklichkeiten“ gnadenlos „verprügelte“. Die Schläge galten nicht ihm allein, sondern Teilen der germanistischen Zunft. Die Dichter störte, dass man ihnen immer wieder die Texte der älteren Kollegen als Muster vorgab.
Die gemeinsame böhmische Herkunft, die Liebe zu Rilke und zur Musik sowie die Nähe zum Weimarer Dichter-Nachlass waren Gründe dafür, dass sich der Jenaer Germanist in seiner Habilitationsschrift der Lyrik Louis Fürnbergs zuwandte. Der „Mozart-Novelle“ des Dichters widmete er später eine eigene Studie. Ein Schwerpunkt der Lehrtätigkeit Hans Richters war die Literatur der DDR. Seine lange Publikationsliste zeigt, dass er auch zu Goethe, Rilke, Hauptmann, Wedekind, Kafka, Celan und vielen anderen Gültiges zu sagen wusste. Schmerzvoll für ihn war, dass er den Textkorpus zur DDR-Rilke-Ausgabe zusammengestellt hatte, das für ihn so wichtige Projekt jedoch wegen vieler anderer Aufgaben nicht zu Ende bringen konnte.
Auch theoretische Fragestellungen interessierten ihn: Wie gehen heutige Schriftsteller mit dem literarischen Erbe um? Was macht den Individualstil eines Dichters aus? Es entstanden beachtete Bände, die Hans Richter anregte und gemeinsam mit Jenaer Kollegen erarbeitete: „Schriftsteller und literarisches Erbe“ (1976) und – ein Jahrzehnt danach – „Generationen, Temperamente, Schreibweisen“. Nicht vergessen sollte man seine gewichtigen Texte für die zwölfbändige „Geschichte der deutschen Literatur“, die im Volk- und Wissen-Verlag erschien. Sein opus magnum schrieb Richter vor und nach dem Umbruch: „Franz Fühmann – Ein deutsches Dichterleben“ (1992), das 2001 auch in einer erweiterten Taschenbuchausgabe herauskam. Mit Fühmann, der das Spannungsverhältnis zwischen Dichtung und Doktrin tief durchlebte und künstlerisch reflektierte, wählte Richter erneut einen Autor, der aus seiner böhmischen Heimat kam. Auch der aus Reichenberg stammende Erzähler Günther Rücker stand Richter besonders nah.
Es ist jammerschade, dass er seine Memoiren, an denen er über Jahre arbeitete, nicht zu Ende führen konnte. Im Mai 2000 war ein erstes, vielversprechendes Kapitel gedruckt worden. Darin schilderte Richter den Besuch Hitlers in seiner Vaterstadt am 2. Dezember 1938. Es war der zehnte Geburtstag des nunmehr Verstorbenen …
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