20. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2017

Vom Stolz auf Wehrmacht und Einsatzgruppen

von Petra Erler

Im „Checkpoint“ des Tagesspiegel vom 17.11.2017 wurde daran erinnert, dass vor 76 Jahren der Berliner Jude Daniel Marcuse nach Kowno, Fort IX, deportiert und dort erschossen wurde.
Kowno? Das ist Kaunas (Kauen). Dorthin wurden am 17. November 1941 1.009 Berliner deportiert. Im Zug, der vom Bahnhof Grunewald abfuhr. Sie erreichten das heutige Kaunas am 21. November. Am 25. November wurden sie erschossen. Darunter Daniel Marcuse, zwanzig Jahre, seine Schwester Miriam, 17 Jahre, und ihre Mutter Lilli. In Berlin sind für sie Stolpersteine verlegt. Noch vor der Wannsee-Konferenz wurden damit auch Berliner Opfer der planmäßigen massenhaften Ermordung von jüdischen Menschen. Der Genozid begann auf dem Territorium der damaligen Sowjetunion. Das System „Auschwitz“ wurde aufgrund der dort gesammelten „Erfahrungen“ ersonnen.
Die Mörder dieser 1009 Berliner können aufgespürt werden. Es war das Einsatzkommando 3 unter Leitung von SS-Standartenführer Karl Jäger. Als Teil der „Einsatzgruppe Ost“ hatte es den Auftrag, Juden systematisch zu ermorden. Das Konzept der Einsatzgruppen wurde im Frühjahr 1941 durch die SS, den SD und die Wehrmacht gemeinsam ausgearbeitet. Alle Einsatzgruppen waren der Wehrmacht unterstellt. Die Wehrmacht leistete ihnen Unterstützung. In jeder denkbaren Form. Im Reichenau-Befehl vom 10. Oktober 1941 heißt es „Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee.“ Weiter heißt es darin, dass „unsere (gemeint ist die Wehrmacht – P.E.) geschichtliche Aufgabe [darin besteht], das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr ein für allemal zu befreien.“
Karl Jäger hat einen detaillierten „Rechenschaftsbericht“ über sein verbrecherisches Tun verfasst, für seine Vorgesetzten, den sogenannten „Jäger-Bericht“ vom 1. Dezember 1941. Seine Authentizität ist bestätigt. Mit Datum 25.11.41 notierte Jäger die Ermordung von 1.159 Männern, 1.600 Frauen und 175 Kindern, „Umsiedler aus Berlin, München u. Frankfurt a. M.“
Insgesamt, so der „Jäger-Bericht“, wurden zwischen Juli und November 1941 auf dem Gebiet des heutigen Litauen und Weißrusslands 137.346 Menschen ermordet. Vor allem Juden. Vor allem litauische Juden. Aber auch Juden aus Weißrussland, deutsche Juden, österreichische Juden, Juden aus den USA. Zudem fielen litauische Kommunisten, Polen, Russen, Roma, Kriegsgefangene und geistig behinderte Menschen Karl Jäger und seiner Truppe zum Opfer. Das Einsatzkommando 3 brachte in weniger als sechs Monaten 133.346 Menschen um. 4000 starben bereits zuvor durch die Hand von Litauern. Sie agierten aufgrund einer deutschen Ermutigung zum Pogrom, die jedoch nicht bekannt werden sollte.
Karl Jäger bilanzierte, „das Ziel, Litauen judenfrei zu machen (ist) erreicht.“
Zu den Erschießungen in Kaunas schrieb Jäger das Folgende: „Die Aktionen in Kauen selbst, wo genügend einigermassen ausgebildete Partisanen (litauische Helfershelfer – P.E.) zur Verfügung stehen, kann als Paradeschiessen betrachtet werden, gegenüber den oft ungeheuerlichen Schwierigkeiten die ausserhalb zu bewältigen waren.“
Es gibt keine Fotos vom sogenannten „Paradeschießen“. Aufgrund des Berichtes eines Überlebenden einer Erschießungsaktion in Kaunas, des 13-jährigen Kuki Kopelman aber wissen wir, wie diese Erschießungen abliefen. Sein Freund, Solly Ganor hat sie im Buch „Das andere Leben“ niedergeschrieben: Die Menschen wurden gezwungen, sich nackt auszuziehen und zur Hinrichtungsgrube hinzurennen. Wer nicht schnell genug war, wurde mit Hunden gejagt, die zubissen. Die todgeweihten Menschen wurden Zeuge, wie Menschen in dieser Hinrichtungsgrube erschossen wurden, in die sie ebenfalls gestoßen wurden. Auf soeben erschossene oder tödlich verwundete Menschen. Dann wurde wieder geschossen. Kuki erzählte ebenfalls von einem alten Juden, der die ganze Zeit aufrecht gestanden und geschrien habe, es gäbe keinen Gott im Himmel, da oben wäre der Teufel, während wieder und wieder auf ihn geschossen wurde.
So sind wahrscheinlich auch die deutschen Juden aus Berlin, Frankfurt/M. und München am 25.11.1941 im Fort IX in Kaunas gestorben.
Was Jäger als „ungeheuerliche Schwierigkeiten […] außerhalb“ von Kaunas (Kauen), bezeichnete, waren logistische Schwierigkeiten: nahezu täglich mit genügend „Partisanen“ die Plätze für die Erschießungen auszusuchen, die Erschießungsgruben auszuheben, die Menschen zusammenzutreiben, Widerstand zu ersticken und Flucht zu verhindern.
Für den SS-Mann Jäger war die Massenermordung von jüdischen Menschen eine „Organisationsfrage“. Jüdische Menschen waren im gesellschaftlichen und juristischen Verständnis des Deutschen Reiches keine Menschen, nur „biologisch vegetatives Leben.“
Der Jäger-Bericht offenbart auch das Komplizentum der deutschen Besatzungsstellen und der Wehrmacht beim Massenmord. Jäger hätte gerne ebenfalls die sogenannten „Arbeitsjuden“ einschließlich ihrer Familien ermordet, „umgelegt“. Insgesamt 34.500 Menschen. Aber da, so notierte Jäger, wäre er mit einer „scharfen Kampfansage“ sowohl seitens der zivilen deutschen Besatzungsstellen als auch der Wehrmacht konfrontiert gewesen. Diese Juden hatten zu diesem Zeitpunkt noch eine wirtschaftliche Zweckbestimmung.
Der „Jäger-Bericht“ war nicht Teil der Beweisführung im Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess gegen die Einsatzgruppen. Wohl aber die zusammenfassenden Berichte (operationelle Situationsberichte UdSSR) über das verbrecherische Tun dieser Einsatzgruppen. Erst 1963 wurde der Jäger-Bericht von den sowjetischen Behörden an Deutschland übergeben. Jäger lebte nach dem Krieg zunächst in Deutschland zunächst unbehelligt. 1959 wurde er verhaftet. Bevor ihm der Prozess gemacht werden konnte, erhängte er sich. Bis zu seinem Tod bestritt er jede Schuld.
Im vergangenen Jahr, am 19. November 2016, wurde ein Film in der Heimatstadt Jägers, Waldkirch, uraufgeführt. Es war ein Mehrgenerationenprojekt. „Karl Jäger und Wir“ heißt er. Allzu lange konnte sich Waldkirch nicht vorstellen, auch Teil des NS-Systems gewesen zu sein. Im Januar 2017 ehrte Waldkirch die in Litauen ermordeten Menschen mit einem Mahnmal, fünf Stelen, stellvertretend für das 5. Gebot: „Du sollst nicht töten.“
Wir können entscheiden, ob die Taten des Karl Jäger, des Einsatzkommandos 3 der Einsatzgruppe A, unterstellt der Heeresgruppe Nord der Wehrmacht, als Teil des Feldzuges gegen die Sowjetunion Ereignisse sind, auf die wir wieder stolz sein wollen. Oder welche Geisteshaltung offenbar wird, wenn sich einer „unser Deutschland und unser deutsches Volk zurückholen“ will. Wir können immer wieder Zeichen setzen, dass wir anders denken. Dass wir nicht hinnehmen, wenn ethnischer Nationalismus und Rassedünkel aufscheinen. Auch für Daniel, auch für Lilli, auch für Miriam Marcuse.