von Renate Hoffmann
„Wer geht, sieht im Durchschnitt mehr, als wer fährt“ – Maxime des Oberwanderers Johann Gottfried Seume (1763–1810), der von Grimma-Hohnstädt aus bis nach Syrakus lief und wieder zurück. Wer geht, erlebt im Durchschnitt mehr, als wer fährt – so lautet meine erprobte und Seumes Ansicht ergänzende Erfahrung.
In freier Landschaft unterwegs, sind es Felder, Wald und Wiesen, Geräusche und Stimmen, der Zug der Wolken, Gewitterguss und Regenbogen, die staunen lassen, überraschen und erfreuen. In belebter Umgebung wird man – wenn es der Zufall will – im Auto mitgenommen, obgleich man doch lieber zu Fuß gegangen wäre. „Steigen Sie nur ein, laufen können sie immer noch.“ – „Sie haben doch gar nichts gegessen“, sagt die Pensionswirtin besorgt am Frühstückstisch, „ich werde Ihnen eine Wegzehrung mitgeben.“ Flugs steckt sie mir zwei Äpfel und belegte Brötchen zu. – In Stützerbach treffe ich ein, als die Ausstellung, die ich besuchen möchte, bereits geschlossen ist. Es wird mir noch einmal aufgetan. Danach sitzen wir, der Künstler und ich, auf der Treppe und diskutieren eifrig darüber, „was die Welt im Innersten zusammenhält.“ – In der Benediktiner Abtei Ottobeuren lösche ich für den uralten Bruder Beschließer das noch brennende Licht auf der Empore. Dieser Umstand spielt mir die Eintrittskarte für ein ausverkauftes Konzert in der spätbarocken Pracht der Basilika mit Mozart, Vivaldi und Cherubini in die Hand; Dirigent Riccardo Muti.
Nach einem langen Wandertag sind die Nächte stets erquicklich, gleichgültig, ob man in spartanischen oder weichen, warmumfangenden Betten schläft. Ist das Nachtquartier nicht vorbestellt und die Unterkunft bleibt dem glücklichen Zufall überlassen, so ergeben sich oftmals kuriose Situationen. Eine Nacht im „Pilgerzimmer“ (ohne auf Pilgerreise zu sein), schmale Bettstatt, Tisch und Stuhl. Eine Nacht im Himmelbett, breit, bequem und ausreichend Platz für drei schlanke Schlafgäste. Und eine Nacht … es war bisher die ungewöhnlichste, kaum wiederkehrende nächtliche Bleibe der Fußreisen.
Diesmal bin ich nicht rechtzeitig in der kleinen Stadt angekommen, die Abenddämmerung zieht auf, und die Straßenlaternen leuchten schon. Die wenigen Hotels sind belegt. Gutes Zureden macht auch kein Zimmer frei. Im Gasthof „Zum Lamm“, dem letzten Hoffnungsträger, schwindet die Zuversicht. „Wir sind bis auf den letzten Platz belegt.“ „Ich bescheide mich mit einem Sofa.“ „Das haben wir nicht.“ „Oder vielleicht eine Camping-Liege?“ „Es tut mir leid.“ Ich tue mir auch leid, wenn ich an eine mögliche Übernachtung auf der Parkbank denke. „Sie können mich doch nicht auf der Straße stehen lassen, mit meinen Rucksack und bei der Nachtkühle, ich brauche doch nur ein Bett, sonst nichts“, sage ich mit betrübtem Unterton …
Der Chef vom „Lamm“ zögert, überlegt, zögert. Dann beginnt er, etwas verlegen: „Wenn Sie – also, wenn Sie im Obergeschoss, gegenüber vom Duschraum – gleich links – da ist eine Kammer. Sie lässt sich allerdings nicht verschließen.“ „Ich habe die Kronjuwelen nicht bei mir.“ „Also dort ist eine Kammer. Ein Bett steht drin. Sie dürfen sich aber nicht umschauen.“ „Weshalb nicht?“ Er zögert erneut. „Es ist nämlich die Bügelkammer.“ Das ist Fügung, geht es mir durch den Kopf, denn in einer Bügelkammer habe ich noch nie übernachtet. Es wird meinen Erfahrungsschatz der besonderen Schlafstätten bereichern. „Wenn Ihnen das nichts ausmacht?“ „Nein, es macht mir nichts aus.“ „Die Toilette ist eine Etage tiefer.“ „Auch das macht mir nichts aus.“ „Na dann, gute Nacht.“ „Gute Nacht.“
Bügelbretter, Wäschestapel, Bügeleisen. Es riecht nach Waschpulver mit Apfelaroma. Eines der Bügelbretter funktioniere ich um zum Tisch und die Bettkante zur Sitzgelegenheit. Der Abend vergeht unter heiteren Gedanken. Und die Nacht umfängt mit tiefem, traumlosem Schlaf.
Nach dem Erwachen verlässt mich kurzzeitig die Orientierung. Bin ich in einer Waschanstalt? Wie kam ich hier her? – Das Bügelbrett mit den Resten des Abendessens lichtet die Zusammenhänge. Der neue Tag beginnt gutgelaunt…
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