von Wolfgang Hochwald
Jimi Hendrix habe ich eigentlich verpasst in meinem Leben. Obwohl ich bereits als Sechsjähriger musikbegeistert war und die einzige deutschsprachige Single der Beatles (eine Doppel-A-Seite mit „Sie liebt Dich“ und „Komm gib mir Deine Hand“) besaß, war ich erst zwölf, als Jimi Hendrix starb. Und zu seinen Lebzeiten offensichtlich noch nicht so weit entwickelt, um zu verstehen, was Hendrix als Komponist, Sänger, aber vor allem als Gitarrist für die Entwicklung der Musik und Pop-Kultur bedeutete.
Und dennoch ist mein Leben voll mit Momenten und Situationen, die mit Hendrix zu tun haben. Da war im Sommerurlaub 1970, also kurz vor Hendrix’ Tod am 18. September des Jahres, dieser nur wenig ältere Junge, der mit seinen langen schwarzen Haaren ein wenig wie ein Jimi-Double aussah, vermutlich kiffte und nur von Hendrix sprach. Kein Wunder, dass das einzige Mädchen in unserer fünfköpfigen Kinder-/Jugendlichen-Gruppe, die sich am biederen Timmendorfer Strand gefunden hatte, auf den Hendrix-Typen stand. Ich hatte von Kiffen keine Ahnung und fuhr in diesem Sommer voll auf „In The Summertime“ von Mungo Jerry ab.
Hendrix starb mit 27 Jahren und war somit nach dem „Rolling Stones“-Gitarristen Brian Jones der zweite in einer Reihe von Musikern, die in diesem Alter aus dem Leben schieden. Ihnen folgten Janis Joplin (Oktober 1970), Jim Morrison von den „Doors“ (Juli 1971), Kurt Cobain von „Nirvana“ (April 1994) und Amy Winehouse (Juli 2011) sowie eine Vielzahl weiterer unbekannterer Musiker/innen, die mit 27 Jahren starben und somit den Mythos des „Club 27“ begründeten.
Die erste Hendrix-Platte hatte ich wohl Ende der sechziger Jahre – bei deutlich älteren Kindern von Freunden meiner Eltern – in der Hand. Das war „Electric Ladyland“ (1968 veröffentlicht) und ich wusste nicht, wo ich (zuerst) hinschauen sollte, da das Cover neunzehn nackte Frauen zeigte. Interessanterweise hat Hendrix sich sofort von dem Cover distanziert, zumal die Fotos ohne sein Wissen gemacht und verwendet worden waren. Schon kurze Zeit später und bis heute wird die Platte mit einem verfremdeten Bild von Hendrix verkauft. Im Jahr 1993 hat die Düsseldorfer Punk Band „Die Toten Hosen“ das ursprüngliche Coverdesign von „Electric Ladyland“ für ihr Album „Reich & Sexy“ aufgegriffen, ein ziemlich peinlicher Vorgang, zumal die Punk-Herren zwar nackt mit auf dem Foto sind, ihr bestes Teil aber hinter den unverhüllten Damen verstecken. Da war Hendrix schon anders gestrickt. Im Februar 1968 erstellte das ehemalige Groupie Cynthia Plaster Caster, die eigentlich Cynthia Albritton heißt, sich aber einen durchaus passenden Künstlernamen zugelegt hatte, einen Abguss von Hendrix erigiertem Penis. Dies wird vermutlich mit seiner Zustimmung erfolgt sein und wer Interesse hat, kann eine Kopie im rock’n’popmuseum in Gronau (Westfalen) bestaunen.
Auf „Electric Ladyland“ ist der Song enthalten, der mich über all die Jahre am meisten mit Hendrix verbunden hat: „All Along The Watchtower“ im Original 1967 von Bob Dylan mit akustischer Gitarre eingespielt, wurde von Hendrix um sein psychedelisches Gitarrenspiel ergänzt und mit einem anderen Rhythmus versehen. Und das so gut, dass Dylan das Stück seitdem selbst ausschließlich in der Hendrix-Version spielt.
Ende 1973 sah ich dann im evangelischen Jugendheim in Köln-Bilderstöckchen den „Woodstock“-Film über das legendäre dreitägige Musikfestival vom August 1969. Hendrix spielte seinerzeit ganz zum Ende des Festivals. Wegen des schlechten Wetters hatte sich sein Auftritt verzögert, so dass er erst am frühen Morgen des 18. August 1969 auftrat, als das Festival eigentlich schon vorbei sein sollte. Von den mehr als 400.000 Besuchern waren zu diesem Zeitpunkt gerade noch rund 25.000 anwesend. Der Film zeigt Hendrix’ Version der US-amerikanischen Nationalhymne „The Star-Spangled Banner“, die er dort zum ersten Mal spielte und stark verfremdete. Wie von Hendrix selbst bestätigt nahm er damit auf musikalische Weise und durch den Einsatz von diversen Gitarreneffekten Stellung zum Vietnam-Krieg. Tatsächlich hörte auch ich – auf dem Boden des Jugendheims sitzend – in Hendrix’ Spiel Kriegsszenen, Maschinengewehrsalven, Fliegerangriffe und Geschosseinschläge. Der Teil von Hendrix’ Auftritt, der mich bis heute aber am meisten bewegt, ist der ruhige Teil, der an die Zerstörung der amerikanischen Nationalhymne und den nachfolgenden Hit „Purple Haze“ anschloss, auf der „Woodstock“-LP lediglich als „Instrumental Solo“, später als „Villanova Junction“ bezeichnet. Während wir das verwüstete Festivalgelände und die Besucher bei der Abreise sehen, entsteht mit kargen Gitarrentönen eine Stimmung, die aus meiner Sicht schon für das Ende des „Peace, Love and Understanding“-Mythos von „Woodstock“ stand und Hendrix’ ganze Verletzlichkeit zeigte. Ein leises, bescheiden wirkendes „Thank You“ schließt den Mitschnitt ab und hinterlässt einen Zuhörer, der verstanden hat, was ein wirklich versierter Gitarrist auch mit wenigen Griffen mit seinem Instrument bewirken kann.
Jimi Hendrix wachte im Übrigen lange über meinen Schlaf. Mein Vater, der für seine Generation erstaunlich an der kulturellen Welt seines Sohnes interessiert war, hatte mir ein Hendrix- Konzertplakat geschenkt, das lange Zeit in meinem Zimmer hing. Darauf war Hendrix’ Kopf als Medusa dargestellt, bei der die Schlangen durch bunte Verstärkerkabel ersetzt waren.
Hendrix war dann nach meiner Schulzeit noch einmal präsent, als ich an der Volkshochschule einen Rockmusik-Englischkurs belegt hatte. Der langmähnige Lehrer war ein bekennender Hendrix-Fan, der – damit wir den Text von „The Wind Cries Mary“ auch wirklich gut interpretieren konnten – die Musik besonders laut aufdrehte. Worauf regelmäßig die Französischlehrerin von nebenan vorbeikam, um sich über die zu laute Musik zu beschweren.
Und seitdem? Habe ich mich über die Hendrix-Vermarktung geärgert, wie sie allen verstorbenen Musikern widerfährt und hatte keine Lust auf die Nachahmer, die seit Hendrix’ Tod meinen, ihre Gitarre auch mal auf dem Rücken oder mit den Zähnen spielen zu müssen.
Und dann kommt meine Tochter letzte Woche von einer Marokko Reise zurück und erzählt mir, dass der Küstenort Essaouira voll mit Bildern von Jimi Hendrix sei und ihr quasi jeder Einheimische davon erzählt habe, wie Hendrix im Jahr 1969 die Stadt besucht und sich in diese verliebt habe. Wenn man den auch im Internet zu findenden Erzählungen glaubt, dann muss Hendrix quasi bei jeder Familie des Ortes übernachtet haben (er war allerdings nur drei Tage in Marokko).
Am 27. November diesen Jahres wäre Hendrix 75 Jahre alt geworden. Der Jimi Hendrix Mythos wird noch lange weiterleben, nicht nur in Essaouira. Ich hätte ihm gewünscht, 75 zu werden. Sicherlich um einmal zu hören, welche Musik er als älterer Herr gemacht hätte, vielleicht aber auch nur, um ein paar Bilder von ihm und seinen Enkeln zu sehen.
Vielleicht würde er sich aus aktuellem Anlass aber auch noch einmal mit der amerikanischen Nationalhymne befassen. Wir könnten sicherlich wieder einmal jemanden gebrauchen, der diese Hymne einer Grundreinigung unterzieht. In diesem Sinne Happy Birthday, Mr. Hendrix.
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