von Peter Linke
Von April bis Oktober 1967 strömte die Welt ins kanadische Montreal zur Expo 67. Der Zeitpunkt war mit Bedacht gewählt: hundert Jahre zuvor hatte sich der Bundesstaat Kanada formiert, und Montreal feierte sein 325. Gründungsjubiläum.
Das Ausstellungsgelände befand sich auf einer Halbinsel und zwei Inseln, eine davon speziell für die Weltausstellung aufgeschüttet, inmitten des Sankt-Lorenz-Stroms. 62 Länder nahmen teil, davon 26 aus Afrika, 20 aus Europa, 9 aus Asien und 7 aus Amerika.
Im Fokus des Geschehens: der Mensch als individuelles und gesellschaftliches Wesen, sein Suchen, Finden, Scheitern und Weitermachen in einer zunehmend technisch vernetzten Welt. Das heute allgegenwärtige Bild vom Globalen Dorf – in Montreal wurden erstmals einer breiten Öffentlichkeit dessen flirrende Umrisse aufgezeigt.
Derart in Szene setzen konnte sich Kanada jedoch erst, nachdem sich ein anderes Land zurückgezogen hatte: die Sowjetunion. Für kurze Zeit war der Kreml wild entschlossen. Aus gutem Grund: Der 50. Jahrestag der Oktoberrevolution näherte sich mit Riesenschritten. Und was hätte ihm einen würdigeren Rahmen verleihen können als eine Weltausstellung?
Die entsprechenden Rechte hatte man sich bereits 1960 gesichert. Von ursprünglich 14 Entwürfen schafften es fünf in die Endrunde. Einer davon wollte die Expo auf dem Gelände der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft (WDNCh) im Nordosten Moskaus platzieren, wobei nicht ausgeschlossen wurde, die dortigen Gebäude abzureißen, da diese nicht länger den Ansprüchen an zeitgemäße Architektur entsprächen. Ein anderer verortete das Ausstellungsgelände entlang des rechten Moskwa-Ufers vom Kreml über den Gorki-Park bis zur Lomonossow-Universität (MGU). Der nächste hatte die Lenin-Berge im Südwesten der Hauptstadt im Visier. Und noch ein anderer favorisierte den Raum zwischen Wernadski-Prospekt und Mitschurin-Prospekt mit direktem Zugang zur damals noch im Bau befindlichen Moskauer Ringautobahn (MKAD).
Letztlich durchsetzen jedoch sollte sich ein Entwurf, in dessen Zentrum das erst seit Beginn der sechziger Jahre zu Moskau gehörende Gebiet Tjoplyj Stan stand. Ausschlaggebend dafür war die Absicht, entsprechend dem Generalbebauungsplan von 1935 das gesellschaftliche Zentrum der Hauptstadt in südwestlicher Richtung zu erweitern sowie die damals gerade im Aufbau befindlichen experimentellen Wohngebiete im Südwesten (Nowyje Tscherjomuschki) der Welt als Teil der Expo zu präsentieren.
Anders gesagt: die Weltausstellung sollte dazu beitragen, dass Moskau (und damit das gesamte Land) einen dringend erforderlichen Modernisierungs- und Internationalisierungsschub erfährt.
Die Vorbereitungen liefen auf vollen Touren: Stattfinden sollte das Großereignis vom 20. Mai bis 20. November 1967; angestrebt wurden 50 Millionen Besucherinnen und Besucher, angelockt vom Expo-Motto Progress i mir – Fortschritt (nicht länger nur in seiner sozialen, sondern auch wissenschaftlich-technischen Dimension) und mir (in seiner Doppelbedeutung als Erde und Frieden – im Sinne des damals neuen Konzepts friedlicher Koexistenz zwischen Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung). Und plötzlich war alles vorbei: 1962 legte der Kreml das Projekt völlig überraschend zu den Akten. Die Gründe dafür sind bis heute im Dunkeln geblieben: Finanzielle Schwierigkeiten? Interne Machtkämpfe? Beides? Aufschluss könnten die Lebenserinnerungen des damaligen Expo-Generalkommissars (und Ex-Innenministers) Nikolai Dudorow geben. Aber die wollte bislang niemand veröffentlichen…
Montreal 67 hingegen wurde ein voller Erfolg. Die Absicht, das ambivalente Wechselverhältnis zwischen Mensch und Maschine wohlwollend kritisch zu beleuchten, schien den Nerv der Zeit getroffen zu haben: Über 50 Millionen Besucherinnen und Besucher wurden am Ende gezählt (fast dreimal soviel wie die damalige Bevölkerung Kanadas).
Besonders fasziniert war man von der futuristischen Expo-Architektur. Etwa des US-Pavillons, einer riesigen geodätischen Kugel aus Acryl, Aluminium und Stahl, entworfen von Richard Buckminster Fuller, ihr Inneres gewidmet dem Mondprogramm Washingtons. Oder des bundesdeutschen Pavillons, einer 900 Quadratmeter großen Zeltkonstruktion Frei Ottos, gehalten von lediglich acht Masten an drei Ankerpunkten, unter der revolutionäre Drucktechnik präsentiert und die Geschichte der Kernspaltung erzählt wurde. Oder des von seinem Architekten Jean Faugeron „Arche Noa“ getauften französischen Pavillons, einer massiven skulpturalen Stahl-Beton-Konstruktion mit Glas- und Aluminiumummantelung, die Modelle des weltweit ersten Gezeitenkraftwerks Rance sowie des Forschungsreaktors Osiris beherbergte. Oder vom experimentellen Wohnhauskomplex Habitat 67 des israelischen Architekten Mosche Safdie, bestehend aus 354 stufenförmig aufgestellten Quadern mit insgesamt 158 Wohneinheiten für bis zu 700 Bewohner…
Aber auch viele Einzelexponate fanden ihr Publikum: ein Film über den ersten Menschen im freien Weltall Alexei Leonow, Mitbringsel von Jacques-Yves Cousteaus Tiefseetauchgängen, eine Uhr aus der Schweiz mit einer Gangabweichung von +/- einer Sekunde in 3000 Jahren, ein japanischer Kalender, der Interessierten verriet, auf welchen Wochentag ihr Geburtstag in 2333 Jahren fällt…
Der Charme der Expo 67 scheint ungebrochen. 2017, zu ihren 50. Geburtstag, erlebt Montreal eine wahre Expomanie, mit vielfältigen Ausstellungen, Happenings und Retroparties.
Dabei kann schon mal untergehen, dass der seinerzeit am besten besuchte Pavillon der sowjetische war: 13 Millionen Menschen standen oft mehrere Stunden an, um einen Blick ins Innere zu werfen.
Für die Sowjetunion sollte es die spektakulärste Expo-Teilnahme aller Zeiten werden. Natürlich wollte man sich gerade nach dem Debakel von 1962 der Welt von seiner besten Seite zeigen. Nicht unwesentlich für den Erfolg dürfte aber auch gewesen sein, dass man mit dem Motto der Weltausstellung Der Mensch und seine Welt wirklich etwas anfangen konnte, nicht zuletzt, weil dessen Autor im Lande Lenins von vielen Menschen hoch geschätzt, ja verehrt wurde: Der Mensch und seine Welt – Terre des hommes (Wind, Sand und Sterne) – war der Titel eines der Spätwerke des französischen Fliegers, Tüftlers und Träumers Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944), interpretiert von den Expo-Machern als Hohelied auf Freundschaft, gegenseitigen Beistand und humanistische Werte.
Der Veröffentlichung des Kleinen Prinzen in einer Moskauer Zeitschrift Ende der fünfziger Jahre folgten sehr bald Übersetzungen der wichtigsten Werke Saint-Exupérys. 1965 klang ein Lied durchs Land: Zärtlichkeit – ein melancholisches Stück über das Fliegen. Einzig erwähnter Name: Eksjuperi. Insbesondere unter sowjetischen Fliegerkosmonauten wurde es rasch populär … und zum Lieblingslied Juri Gagarins, eines großen Bewunderers der Werke des sensiblen Franzosen.
Der Mensch als Flieger, als kosmisches Wesen – wie ein roter Faden zog sich diese Idee durch die sowjetische Exposition. Der von Michail Posochin, Aschot Mndojanz & Boris Tchor gestaltete Pavillon, mit seinen transparenten Wänden und seinem geschwungenen Dach einem schwebenden Kristall nicht unähnlich, ließ seine Gäste multimedial an einem Raketenstart teilnehmen, schickte sie auf den Mond und die Venus (das dafür notwendige Bildmaterial hatten unlängst die Sonden Luna-9 und Wenera-3 beschafft), präsentierte ihnen diverses kosmisches Fluggerät, darunter 1:1-Modelle des Sputnik, der Wostok-Kapsel Gagarins und der seit 1965 verwendeten Proton-1-Rakete, machte sie bekannt mit dem Schaffen Konstantin Ziolkowskis (1857–1935), einem der Wegbereiter der modernen Raumfahrt…
Nach Schließung der Expo wurde der Pavillon demontiert und mit einigem Aufwand auf dem Gelände der WDNCh (!) wieder errichtet. Nach Meinung des Moskauer Architekten Andrei Stenjuschkin, war er eines der imposantesten Objekte des sowjetischen Modernismus und ein Symbol für den in den sechziger Jahren allgegenwärtigen Fortschrittsglauben.
Allgegenwärtig ja, aber keineswegs naiv. Wusste man doch längst um seine Janusköpfigkeit, hatte verstanden, dass in einer immer komplexer werdenden Welt Enthusiasmus und Draufgängertum allein nicht mehr weiterhalfen.
Als Himmelsstürmer hatte Saint-Exupéry diese schmerzhafte Erfahrung bereits in den dreißiger Jahre gemacht: Auf die Zeit des freien Fluges müsse eine Zeit der Sesshaftigkeit folgen, formulierte er 1939 in Terre des hommes, eine Zeit, in der die physische Kraft der Maschine organisatorisch eingehegt gehöre, eine Balance zu finden sei zwischen Niederreißen und Bewahren, eine Zeit, in der Menschsein bedeute, Verantwortung zu tragen, da jeder individuell gesetzte Stein zum Bau des Weltgebäudes beitrage. Mit diesen Einsichten hatte er lediglich auf den Punkt gebracht, was ihn bereits Jahre zuvor beim Schreiben eines anderen Buches umgetrieben hatte: Die Formierung des Neuen Menschen „in der Ebene“, sein Wert im Spannungsfeld zwischen Pflicht und Freiheit. Dieses Buch war Vol de nuit (Nachtflug), nach Meinung Jelena Gagarinas eines der Lieblingsbücher ihres Vaters.
Schlagwörter: Antoine de Saint-Exupéry, Expo 67, Juri Gagarin, Kanada, Peter Linke, Sowjetunion