von Alfons Markuske
Auf dem Weg ins Litauische, nach Klaipeda empfahl unser Reiseführer eine „Fahrtunterbrechung in dem beliebten Küstenort Palanga“ samt „Spaziergang über die 470 Meter lange Seebrücke“. Aus Neugier – das war hier ja nicht die mit Betonklötzen zugepflasterte spanische Riviera um Malaga, der wir uns freiwillig nicht für Geld und gute Worte nähern würden, obwohl die ab Ende April intensiv blau blühenden, noch völlig blätterlosen Yakaranda-Bäume in Malaga durchaus einen sehr stimmungsvollen Anblick bieten – folgten wir dem Rat. Gottseidank waren die Saison bereits beendet und viele der massentouristischen Locations schon eingemottet. Im Hochsommer sollte, wer Menschenaufläufe scheut und klaustrophobisch vorbelastet ist, den Ort besser meiden. Auch die Seebrücke ist so öde wie jede andere Sackgasse auf Stelzen ins Wasser, wo es zu den nachhaltigsten Erinnerungen zählt, wenn man dieserorts auch noch von der Fäkalverklappung einer Möwe getroffen wird – schlimmstenfalls auf die Brillengläser.
Wer aus Berlin stammt oder in Berlin ansässig ist und in der Simon-Dach-Straße im Friedrichshain schon mal in einem der dort gehäuften, aber nicht in jedem Fall der Spitzengastronomie zuzurechnenden Lokalitäten verweilt und sich hernach gefragt hat, ob Simon Dach vielleicht der Schutzheilige dieser Etablissements ist, dem fallen in Klaipeda die Scheuklappen von der Optik. Spätestens vor dem zierlichen Simon-Dach-Brunnen: Der Namensgeber war am Ort, als der noch den deutschen Namen Memel trug, unglücklich in die Braut eines Predigers verliebt und bedichtete dies. Im Barock und auf plattdeutsch: Anke van Tharaw. Die Verse kennte heute wahrscheinlich kein Mensch mehr, wenn nicht Herder, dessen Wirkungskreis ab 1764 im fast benachbarten Riga lag, sie hochgedeutscht hätte: Ännchen von Tharau.
Von Klaipeda setzt man per Autofähre über auf den litauischen Teil der Kurischen Nehrung. (Die andere, von Land aus erreichbare Hälfte gehört zu Russland, was ein Visum erfordert.) Das kann in der Saison scheitern, weil die Behörden, um das als landschaftliches Kleinod geltende Stück Erde nicht unter Blech und Abgasen zu begraben, täglich nur eine limitierte Anzahl von Fahrzeugen zulassen. Im September allerdings ist das kein Problem. Die Nehrung hat ja einen nahezu mystischen Nimbus und ist nicht zuletzt geadelt durch drei Sommeraufenthalte von Thomas Mann samt Familie, bis der wegen der Nazis auch auf weitere Reisen nach Ostpreußen verzichtete. Und im Übrigen? Wasser zu beiden Seiten, dazwischen an Land Nadel- sowie Mischwald, Strände ohne Ende und eingesprengselt in die Landschaft ein paar touristisch aufgemotzte Dörfchen. Also wie auf dem Darß, nur halt paar Kilometer weiter im Osten. Ach ja, auf der Nehrung gibt’s zusätzlich noch Wanderdünen. Muss man drauf stehen. Kann man aber auch – ganz wortwörtlich.
Weiter ging’s nach Kaunas, der zweitgrößten Stadt des Landes. Von 1920 bis 1940 provisorische Hauptstadt, weil Polen sich nach der Erlangung der litauischen Unabhängigkeit im Jahre 1920 die gesamte Region Vilnius einfach mal so einverleibt hatten. Wer – wie Polen mit bis dato drei Teilungen unter die Knuten auswärtiger Herrscher – in seiner eigenen Geschichte besonders gebeutelt worden ist, verzichtet ja keineswegs automatisch darauf, sich bei passender Gelegenheit gegenüber schwächeren Nachbarn vergleichbar zu bedienen.
Die historische Altstadt liegt auf einer Halbinsel am Punkte des Zusammentreffens der Flüsse Nemunas und Neris – ab dem 13. Jahrhundert unter der Bedeckung durch eine strategisch gut platzierte Festung. Den deutschen Kreuzrittern gelang wiederholt die Eroberung samt anschließender Zerstörung, aber die Litauer bauten den Trumm immer wieder auf. Heute zeugen davon nur noch ein Wehrturm und wuchtige Backsteinmauern – beides aufwändig restauriert. Alles andere wurde im 17. Jahrhundert von der Neris weggeschwemmt oder im 18. Jahrhundert im Kampf gegen Russen und Schweden zerstört.
Bis zum weiträumigen Rathausplatz sind es nur wenige Fußminuten. Dort glaubt man, vor einem barocken Sakralbau zu stehen: gewaltiges Kirchenschiff, passabler Glockenturm – alles da. Es ist aber das historische Rathaus, im Volksmund wegen der Farbe seiner Fassaden „weißer Schwan“ genannt, und im 19. Jahrhundert von der Zarenfamilie bei Reisen weiter nach Europa hinein gern als Nobelherberge genutzt.
Kaunas ist eine Studentenmetropole mit vier Universitäten sowie je einer Sport- und einer Veterinärakademie. An dem sonnigen Freitag, als wir durch die Fußgängerzone flanierten, steppte dort der Bär. Restaurant an Café an Eisladen an Fast-Food-Imbiss … – alle mit Tischen und Stühlen auch auf der Straße und alles voller junger Leute.
Nach Einbruch der Dunkelheit drang aus der geöffneten Pforte der Peter-und-Paul-Kathedrale, Litauens größter gotischer Kirche – das Land ist im Unterschied zu seinen protestantischen baltischen Schwestern Estland und Lettland immer katholisch geblieben – hörbar unsakraler Gesang. Wir traten ein und lauschten einem Priester und zwei „zivilen“ Sängern zur Gitarre …
Am nächsten Morgen – Besuch der Auferstehungskirche, der man architektonisch ihre Entstehungszeit (1932–1940) deutlich ansieht. Die Bauarbeiten wurden durch den sowjetischen Einmarsch unterbrochen. Die Nazis unterhielten dort später ein Warenlager, und nach dem Krieg beherbergte der Bau eine Fabrik für Radioapparate. Nach 1990 erfolgte die Rückwidmung zur Kirche und wurde die Fertigstellung in Angriff genommen. Entstanden ist ein lichtdurchflutetes, nachgerade sanguinisches Gotteshaus, dem aber auch jede Spur handelsüblicher katholischer Düsternis abgeht. Eine Visite ist auch für Ungläubige reizvoll, denn die Kirche thront nicht nur auf einem Hügel über der Stadt, sondern hat überdies in ihrem 70 Meter hohen Turm einen Lift, mit dem man auf das hoch gelegene Dach gelangt. Bei schönem Wetter und klarer Sicht hat man einen herrlichen Blick über die gesamte Stadt und ihr Umland.
Den Hügel muss man nicht einmal selbst erklimmen. An seinem Fuße erwartet eine Standseilbahn Fahrgäste mit geöffneten Türen. Man nimmt Platz. Plötzlich ertönt eine unverständliche, weil in heimischer Mundart vorgetragene Ansage. Wie von Geisterhand schließen sich die Türen, und das Gefährt setzt sich in Bewegung. Am oberen Endpunkt wird man schon erwartet und darf seinen geringen Obolus entrichten. Die Kirche erhebt sich vis-à-vis der kleinen Bahnstation.
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Gebucht und angetreten hatten wir die Reise zu zweit, aber tatsächlich stattgefunden hat sie zu dritt. Zumindest während unserer Autofahrten. Denn unser Mietwagen verfügte über ein Navi, das deutsch zu uns sprach. Mit der Stimme von Marietta Slomka. Wer jetzt nicht gleich ein Bild vor Augen hat – das ist die Anchorwoman vom heute-journal, bei der man, wenn sie etwas irgendwie Degoutantes zu Gehör bringen muss, die hoch gezogene linke oder rechte Augenbraue gar nicht sehen muss: Man hört die am nasalen Timbre der Moderatorin.
In unserem Navi war die Frau bestens informiert und hat uns im gesamten Baltikum nicht ein einziges Mal im Stich gelassen oder in die Irre geführt. Im heute-journal sind wir uns da ja nicht immer ganz so sicher.
Leider war sie völlig unaufgefordert zugleich der Auffassung, uns ständig mit demselben Spruch belehren zu müssen: „Beachten Sie bitte die Geschwindigkeitsbegrenzung!“ Und zwar – gefühlt – immer schon knapp vor dem eigentlichen Überschreiten oder in Situationen, in denen man wirklich mal ein Auge zudrücken konnte. Tief in der Nacht, auf menschenleerer Piste … Aber nein. Und die Augenbraue war deutlich zu hören. Jedes Mal: „Beachten Sie bitte die Geschwindigkeitsbegrenzung!“
Anfangs nahmen wir es sportlich-scherzhaft, doch namentlich die sich abwechselnden Fahrer zeigten bald Nerven. Und in Zwangsgemeinschaften auf engstem Raum und ohne wirkliche Alternative für die genervte Seite – Marietta operierte nach dem Motto „ganz oder gar nicht“: mit Abschaltung der Belehrungen endeten abrupt auch die Navigationsangaben – schlägt in solchen Fällen das anfängliche vornehme Hamburger Du („Marietta, nun seien Sie mal nicht so.“) bald um:
„Nee, Marietta, nicht schon wieder.“
„Mich hat gerade einer überholt. Mach’ dem ’ne Ansage.“
„Mädel, nimm die Tomaten von den Augen: Hier ist 90, nicht 70.“
„Himmel, Arsch und Zwirn, Marietta: Du kannst mich mal …“
Unser letztes Reiseziel erreichten wir trotzdem – Vilnius.
Wird fortgesetzt.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Baltikum, Kaunas, Kurische Nehrung, Marietta Slomka, Simon Dach