20. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2017

Türkische Macht- und Militärpolitik

von Jerry Sommer

Seit dem griechischen Putschversuch 1974 in Zypern sind über 20.000 türkische Soldaten im Nordteil der Mittelmeer-Insel stationiert. 2015 begann die Türkei, mit Truppen im benachbarten Syrien und Nordirak einzugreifen. Nun ist Ankara dabei, auch in Katar einen Militärstützpunkt zu errichten. In einigen Jahren sollen dort 3000 türkische Militärs stationiert sein. Und in Somalia wird gegenwärtig eine türkische Basis errichtet, die noch in diesem Jahr in Betrieb genommen werden soll. Die Türkei will auch einen kleinen Flugzeugträger zu bauen. Die Regierung will damit in der Lage sein, Machtprojektion zu betreiben, also auch außerhalb des Mittelmeerraumes türkische Interessen und Machtansprüche zu unterstreichen.
Diese Entwicklungen haben sehr unterschiedliche Gründe. Zum militärischen Eingreifen in Syrien und Irak sagt André Bank vom Hamburger GIGA-Institut für Globale und Regionale Studien: „Ein starkes türkisches Interesse in der Gesamtregion ist es, eine kurdische Eigenständigkeit oder eine größere Autonomie für Kurdinnen und Kurden zu verhindern.“
In Syrien will Ankara verhindern, dass die syrischen Kurden ein zusammenhängendes Gebiet kontrollieren. In Irak geht es der Türkei darum, eine Unabhängigkeitserklärung der irakischen Kurden zu vereiteln. Hintergrund dieser Haltung ist die Auseinandersetzung mit den türkischen Kurden. Einen Waffenstillstand mit der PKK hat die Erdogan-Regierung 2015 aufgekündigt. Seitdem geht sie wieder militärisch gegen die Aufständischen vor. Nun versucht die türkische Regierung auch kurdische Autonomiebestrebungen in seinen Nachbarländern durch Militäreinsätze zu unterbinden. Doch die türkische Militärintervention gegen die syrischen Kurden hat zu Spannungen mit den USA geführt. Denn Washington unterstützt die syrischen Kurden. Sie sind sozusagen die Bodentruppen der USA – im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat.
Mit Katar wurde zwar schon vor Jahren vereinbart, dort einen türkischen Militärstützpunkt zu errichten. Doch die aktuellen Entwicklungen haben diesem Vorhaben eine besondere Bedeutung gegeben. Denn im Frühjahr verhängten Saudi- Arabien und die übrigen Golfstaaten – mit Unterstützung von USA-Präsident Donald Trump – gegen Katar eine umfassende Blockade. Mit dem beschleunigten Ausbau der Militärbasis in Katar stärkt die Türkei dem Emirat den Rücken. Damit unterstreicht Ankara zugleich seine regionalen geopolitischen Ambitionen, schätzt der Politikwissenschaftler Thanos Dokos vom außenpolitischen Institut „Eliamep“ in Athen ein: „Sich insbesondere Saudi-Arabien und anderen sunnitischen Mächten in der Region entgegenzustellen, halte ich für ein deutliches Signal: Die Türkei strebt eine größere Rolle im Nahen Osten an. Allerdings betrachtet Ankara die Saudis nicht als Feind, sondern als Rivalen im Wettstreit um die Führung der Sunniten. Gleichzeitig versucht die türkische Regierung aber auch, eine offene Konfrontation zu vermeiden.“
Tatsächlich ist Katar ein langjähriger Bündnispartner Ankaras. Nach dem Sturz des ägyptischen Machthabers Husni Mubarak unterstützte Katar genauso wie die Türkei die gewählte Regierung der Muslimbrüder unter Präsident Mohammed Mursi in Kairo. Den von Saudi-Arabien begrüßten Militärputsch gegen Mursi hatten sowohl der Emir in Doha als auch Ankara entschieden abgelehnt. Auch in anderen regionalpolitischen Fragen stimmen Katar und die Türkei oft überein. So versuchen beide, halbwegs gute Beziehungen zu Iran aufrechtzuerhalten, während Saudi-Arabien voll und ganz das Ziel der USA unterstützt, in der Region eine anti-iranische Front zu bilden.
In Somalia sollen auf dem türkischen Militärstützpunkt Soldaten der dortigen Regierung für den Bürgerkrieg gegen die islamistischen Al-Shabaab-Milizen ausgebildet werden. Diesem militärischen Engagement gehen langjährige wirtschaftliche Beziehungen und humanitäre Hilfen für Somalia durch die Türkei voraus. Der Stützpunkt ist Teil der türkischen Afrika-Strategie, sagt André Bank: „Die Türkei hat in der Vergangenheit versucht, ihren Einfluss auch in Regionen jenseits des Nahen Ostens auszudehnen. Es gab eine Vorstellung, mit den am wenigsten entwickelten Ländern eine Partnerschaft zu entwickeln. Die Türkei hat einen Boom erlebt beim Ausbau von Botschaften in Subsahara-Afrika. Und hier gehört auch der Versuch zunächst der Konfliktmediation in Somalia hinein und das dann mit einer militärischen Strategie zu flankieren – dort am neuralgischen Punkt am Horn von Afrika.“
Somalia ist ein islamisches Land. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan möchte den internationalen Einfluss seines Landes vor allem in der islamischen Welt stärken – nicht nur im Nahen Osten, sagt Thanos Dokos aus Athen: „Er schaut auf die gesamte islamische Welt. Er möchte Anführer der sunnitischen Moslems werden. Das ist die generelle Richtung seiner Außenpolitik. Ob das gut oder schlecht ist auch für die NATO, die EU, die USA – das, was wir den Westen nennen – bleibt abzuwarten.”
Seit der Niederschlagung des Militärputsches im vergangenen Jahr durch Erdogan hat die Entfremdung zwischen der Türkei und den westlichen Staaten zugenommen. Autoritäre Tendenzen, Repressionen und Menschenrechtsverletzungen zum Beispiel sind in Deutschland und bei anderen Bündnispartnern auf scharfe Kritik gestoßen. Allerdings war die NATO nie vorwiegend eine Wertegemeinschaft: Selbst als in der Türkei oder auch in Griechenland im vorigen Jahrhundert zeitweise Militärs die Macht übernommen hatten und es zu massiven Menschenrechtsverletzungen gekommen war, stand die NATO-Mitgliedschaft dieser Länder nie infrage. Das dürfte auch jetzt nicht anders sein.
Hinzu kommt, dass es inzwischen auch innerhalb des westlichen Bündnisses bei vielen internationalen Fragen unterschiedliche Auffassungen gibt – insbesondere seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA. So wird beispielsweise das Atomabkommen mit Iran vom Weißen Haus abgelehnt – im Gegensatz zu den anderen westlichen Staaten und der Türkei. Differenzen gibt es bei der Blockade Katars durch die Golfstaaten. Die EU und die Türkei haben hier ähnliche Positionen, während Donald Trump eine ganz andere Politik verfolgt.
Kritik aus NATO-Staaten hat auch die jüngste türkische Entscheidung hervorgerufen, das russische Luftabwehrsystem S-400 zu kaufen. Skepsis gibt es gegenüber der aktiven Rolle der Türkei im sogenannten Astana-Prozess, in dem Ankara zusammen mit Russland und Iran versucht, eine politische Lösung für den Syrien-Krieg zu finden. Ohnehin hat sich die Türkei nie den Sanktionen der EU und der USA gegen Russland angeschlossen. Türkeikenner André Bank dazu: „Die Türkei versucht, wenn man es neutral ausdrückt, ihre Allianzen zu diversifizieren, also verschiedene Partner zu gewinnen und sich eben damit auch von der kemalistischen Staatsdoktrin der Westorientierung, der Europa- und der NATO-Orientierung zu lösen. Die NATO könnte vor einer Zerreißprobe mit der Türkei stehen.“
Einen türkischen Austritt aus der NATO befürchten die meisten Experten aber nicht. Bulent Aliriza vom Washingtoner „Center for Strategic and International Studies“: „Die Türkei möchte in der NATO bleiben, das Bündnis mit den USA beibehalten und weiterhin die EU-Mitgliedschaft anstreben, auch wenn ein Beitritt auf absehbare Zeit nicht erreicht werden kann. Aber gleichzeitig möchte die Türkei eine unabhängigere Außenpolitik verfolgen, so wie es Frankreich unter de Gaulle in den 60er Jahren gemacht hat.“
Da die Meinungsverschiedenheiten zwischen den NATO-Mitgliedern ohnehin zugenommen haben, wird eine stärker eigenständige Außenpolitik der Türkei innerhalb des westlichen Militärbündnisses wohl durchaus toleriert werden. Dass die türkische Regierung dabei stärker als bisher auf militärische Instrumente setzt, birgt jedoch auch Gefahren. Insbesondere dürfte ein Ende des militärischen Vorgehens gegen die türkischen Kurden und eine friedliche Lösung dieses Konflikts in weite Ferne gerückt sein. Und es ist denkbar, dass die Türkei auch gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der irakischen Kurden mit militärischen Mitteln vorgeht. Erdogan könnte darauf setzen, durch aggressiveres Vorgehen nach außen im eigenen Land mehr Unterstützung für seine Politik zu gewinnen.

Jerry Sommer ist freier Journalist. Der Artikel ist eine leicht veränderte Version seines Beitrages für „Streitkräfte und Strategien“ (NDR-Info, 7.10.2017).