20. Jahrgang | Sonderausgabe | 30. Oktober 2017

Die Rückkehr der Emigranten

von Wladislaw Hedeler

Die Ausgangssituation der linken, respektive linksorientierten Gruppierungen nach der Februarrevolution 1917 in Russland war weitgehend identisch. Ihre führenden Funktionäre, die in der Regel im Exil lebten, drängten, von der Nachricht über die Revolution überrascht, nach Russland. Kriegsbedingt war die Verbindung zusammengebrochen. „Nach Russland sind sämtliche Verbindungen abgerissen“, schrieb Julius Martov am 28. Februar 1917* aus Zürich an seine Freundin Nadeshda, „keine Zeitungen, keine Zeitschriften, keine Briefe“. „Aus Russland bekommen wir nichts, nicht einmal Briefe!!“, hatte Wladimir Lenin am 13. März aus Zürich an Inessa Armand geschrieben. Zwei Tage später erschienen die Zeitungen mit Eilmeldungen über den Sieg der Revolution in Petrograd.
Unter Sozialdemokraten wurde fieberhaft nach Wegen gesucht, die Emigranten zurückzuholen. Der in Stockholm lebende Juri Larin hatte Pawel Axelrod am 19. März über mögliche Reisewege informiert. Vom Seeweg von England aus riet er wegen der Gefahr, von U-Booten torpediert zu werden, ab. Sicherer wäre es, die Route von Spanien in die USA zu wählen. Von New York aus per Schiff nach Bergen. Sollte Amerika Deutschland den Krieg erklären, müsste man den Weg nach Sibirien wählen. Das Geld, mit dem die Überfahrt von Lenin, Axelrod und Martov finanziert werden sollte, lag bereit, die Verhandlungen mit Kerenski hatten begonnen. Nachdem die Provisorische Regierung am 23. März Maßnahmen zur Unterstützung der amnestierten politisch und religiös Verfolgten bekanntgegeben hatte, begann die Rückkehr von Inhaftierten, Verbannten und Emigranten in das politische Leben. Doch wegen des Frontverlaufs war es so gut wie unmöglich, Russland auf dem kürzesten Landwege zu erreichen. Die im Ausland festsitzenden Sozialdemokraten baten ihre Genossen in Russland immer wieder um Hilfe.
Axelrod antwortete umgehend, berichtete über seine Aktivitäten und die Notwendigkeit, den Druck auf die eigene Regierung und die Regierungen der Verbündeten zu erhöhen. Gleichzeitig wies er auf den von Martov eingebrachten Vorschlag hin, den Weg durch Deutschland – im Austausch gegen deutsche Kriegsgefangene – zu nehmen.
Am 19. März tauchte erstmals der Gedanke auf, den direkten Weg zu wählen und legal durch das mit Russland im Krieg stehende Deutschland zu reisen. Bevor Lenin aber am 9. April aus der Spiegelgasse 14 aufbrechen konnte, um den Beginn eines neuen Abschnitts der Weltgeschichte einzuleiten, mussten hinter den Kulissen noch viele politische Weichen für die Zugfahrt gestellt werden. Für die Rückkehr der russischen Emigranten hatte Robert Grimm mit der ihm eigenen Zielstrebigkeit in Verhandlungen mit hochrangigen Vertretern des Auswärtigen Amtes in Berlin und Schweizer Regierungsstellen bald alle Hindernisse aus dem Wege geräumt und die erforderlichen Arrangements in stiller Diskretion getroffen.
Die Mitglieder des Auswärtigen Sekretariats des Organisationskomitees der Sozialdemokratischen Partei Russlands wandten sich im April mit einem Brief an den Vorsitzenden des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten und des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees. Eine Woche darauf veröffentlichte die in Zürich erscheinende Zeitung Volksrecht eine weitere Erklärung „Zur Rückkehr der russischen politischen Flüchtlinge“. Die dem Exekutivausschuss angehörenden Mitglieder stellten darin fest, daß es bisher „wohl keinem einzigen Emigranten gelungen ist, nach Russland zu gelangen“.
Lenin war dieser fruchtlosen Verhandlungen überdrüssig und verließ die Schweiz, ohne das Ende der Verhandlungen mit der russischen Regierung und eine Einverständniserklärung abzuwarten. Mit ihm reisten 38 Personen. Die Zeitung Volksrecht berichtete über den Stand der Dinge: „Zwecks Vorbereitung und Leitung der Rückkehr aller in der Schweiz weilenden russischen Flüchtlinge nach Russland ist in Zürich auf die Initiative des Zentralsekretariats der russischen Emigrantenkassen in der Schweiz ein Zentralkomitee gebildet worden (am 23. März – W.H.), in dem außer dem genannten Zentralsekretariate die Vorstände der Schweizer Liga zur Unterstützung politischer Gefangener und Verbannter Russlands, des ‚Krakauer Verbands‘, des Vereins ‚Vera Figner‘ sowie die Zentralinstanzen der verschiedenen sozialistischen und revolutionären Parteien Russlands vertreten sind.“
Die Verhandlungen schleppten sich hin. Die russische Regierung unternahm nichts. In den Generalkonsulaten waren die Porträts des Zaren abgehängt, doch Ausflüchte der Beamten und Streitereien mit ihnen waren an der Tagesordnung. Erst nachdem der Petrograder Sowjet Druck auf die Regierung ausgeübt hatte, wies diese die Konsulate in London und Paris an, die Emigranten nicht mehr abzuweisen. Die englische Regierung erklärte sich bereit, täglich fünf Emigranten aus Paris aufzunehmen und mit den entsprechenden Visa auszustatten. „Seit den ersten Tagen der Verkündung der politischen Amnestie in Russland“, so die Zeitung Volksrecht in ihrer Ausgabe vom 20. April 1917, „scheiterten alle von den in der Schweiz, in Frankreich und England wohnenden Russen unternommenen Versuche zur sofortigen Heimkehr nicht bloß an den Intrigen der Konsularbeamten des alten russischen Regimes, sondern auch an einer geheimen Kampagne der englischen und französischen Regierungen gegen die ‚russischen Pazifisten‘. Während der Agent der Bourgeoisie, Herr Plechanoff, in der Begleitung von Agenten der englischen und französischen Bourgeoisie, nach Russland heimkehrt, werden Tausende von Russen in Frankreich, England und in der Schweiz zurückgehalten und keine Depesche an den Petersburger Delegiertenrat erreicht ihren Bestimmungsort.“
Die Februarrevolution 1917 gab Plechanow nach langem Exil im Alter von 60 Jahren endlich den Weg nach Russland frei. Er lebte damals mit seiner Familie in einem von seiner Frau Rosalija Markowna geleiteten Sanatorium in San Remo, als er am Morgen des 14. März 1917 vom Ausbruch der Revolution in Russland und dem Sturz des Zaren Nikolaus II. erfuhr. Die Freude unter den russischen Emigranten, die im Sanatorium Unterkunft und Heilung gefunden hatten, war außerordentlich groß. Vor den Tafeln mit den Aushängen wurden die Ereignisse in Russland und deren Auswirkungen auf den Kriegsverlauf diskutiert. Einige Italiener sahen die Ursache der Revolution im Unwillen der Russen, weiter Krieg zu führen. Plechanow wies diese Argumente als Beleidigung des russischen Volkes zurück und versuchte ihnen zu erklären, daß das freie Russland nun sein Schicksal endlich in die eigenen Hände nehmen und die deutschen Angreifer besiegen könne.
Tag für Tag trafen Telegramme ein, in denen er immer dringender aufgefordert wurde, so schnell wie möglich in die Heimat zurückzukehren. „Kommen Sie, wir brauchen Sie hier!“ Und es drängte ihn auch selbst zurück. Obgleich die Jahreszeit für seinen Gesundheitszustand sehr ungünstig war, schloß er sich am 25. März einer internationalen Sozialistendelegation an, die die Reise nach Russland antrat. Die Fahrt von San Remo nach Paris nahm 18 Stunden in Anspruch. Von hier aus reisten sie nach drei Tagen mit der Delegation weiter nach England und Skandinavien. Plechanows Ankunft wurde auf Bitten der Delegation geheim gehalten. In London schlossen sich auch englische Sozialisten der Reisegruppe an. Von Schottland aus erreichten sie auf einem Handelsschiff nach 36 Stunden Bergen. Von hier aus ging es über Torneo und Christiania weiter, wo die Delegation gegen Mitternacht eintraf. Das erste vernünftige Quartier fanden sie in Stockholm. Hier kam es zu einer Begegnung mit dem Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion Hjalmar Branting, der gerade auf dem Rückweg aus Petrograd war. Branting und die Offiziere, mit denen Plechanow sprechen konnte, berichteten über die unter den russischen Soldaten zunehmend Gehör findende Antikriegspropaganda der Zimmerwalder Linken. Auf den Stationen traf Plechanow Sozialdemokraten, die der Gruppe entgegengefahren waren. N. I. Jordanski brachte den Reisenden die ersten Ausgaben der Zeitung Jedinstwo, deren Redaktion Plechanow dann kurze Zeit später übernahm. In der Nacht zum 13. April fuhr der Zug unter den Klängen der Marseillaise in Petrograd auf dem Finnländischen Bahnhof ein.
Am Tag der Rückkehr Plechanows aus der Emigration traf in Stockholm die Gruppe um Lenin ein. Am 15. und 16. April sprach Plechanow bereits auf der Gesamtrussischen Beratung der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten im Taurischen Palais. Die Delegierten feierten die Rückkehr der vor der Verfolgung geflohenen Revolutionäre in die Heimat. Tschcheïdse, der die Beratung eröffnete, sagte unter dem Beifall der Delegierten: „Heute ist Nikolaus II. in Haft und der von ihm außer Landes getriebene Plechanow sitzt unter uns in der ersten Reihe.“
Auch Lenins Ankunft wurde gefeiert. Der Zug traf am 16. April um 23.10 Uhr auf dem Finnländischen Bahnhof ein. Neben den Vertretern des Sowjets waren die aus der Verbannung zurückgekehrten Dumaabgeordneten und ZK-Mitglieder vertreten, die innerhalb von drei Wochen den Parteiapparat reaktiviert und die Herausgabe der Parteizeitung Prawda organisiert hatten. Anders als Plechanow ging Lenin sofort mit seinen zur Begrüßung erschienen Genossen ins Gericht. „Was für Zeug steht denn in Eurer ‚Prawda’“, wandte er sich an deren Chefredakteur Kamenew. Als er auf dem Bahnhofsvorplatz dann doch eine kurze Ansprache hielt, ließ er zum Erstaunen seiner Genossen die sozialistische Revolution hochleben.
Parallel zur Propagierung seiner „Aprilthesen“ musste sich der wegen Eigenmächtigkeit und Verletzung der Parteidisziplin kritisierte und als deutscher Spion verleumdete Lenin gegen entsprechende Vorwürfe und Angriffe verteidigen. Die Schweizer Zeitungen druckten seine Gegendarstellungen regelmäßig ab. Internationalisten aus Frankreich, Polen, Deutschland, Skandinavien und der Schweiz erklärten sich am 7. April mit Lenin solidarisch.
Unter der Überschrift „Die rote Internationale“ berichtete Volksrecht am 15. Mai 1917 über die Abreise der Gruppe um Martov. „Schweren Herzens sahen wir alle die lieben Genossen und Genossinnen scheiden, mit denen wir in jahrelanger Arbeit treu verbunden waren. Wie ganz anders sahen unsere Freunde aus als sonst, verjüngt, strahlend, voller Begeisterung. Wenn man die Gesichter betrachtete, die wir doch so gut gekannt zu haben glaubten, sahen wir Neues, vorher nie Geschautes, und wir begriffen, wie noch nie, was uns theoretische Abhandlungen nie so klar gemacht hätten: daß das russische Proletariat an der Spitze des europäischen Proletariats siegreich sein werde. […] Wir wissen, daß der Weg noch weit und steinig ist, auch wenn die russischen Grenzpfähle erreicht sein werden, aber aus der Hingebung, der Begeisterung der russischen Kämpfer lasen wir den bestimmten Willen des Sichdurchsetzens, den Willen zum Siege heraus. Glückauf der wackeren Kämpferschar.“
Heute sind die Namen von 794 Rückkehrern, darunter 555 Männer, 178 Frauen und 61 Kinder, bekannt. Über 417 Biographien sind unvollständig. Für 261 Personen konnten Sterbedaten ermittelt werden.
Die Emigranten trafen von 1917 bis 1918 in Gruppen oder allein in Russland ein. Im März 1917 kamen 54, im April 167, im Mai 322, im Juni 49, im Juli 22, im August zehn, im September acht, im Oktober sechs, im November vier und Dezember zwei. 1917 trafen 758 ein, 1918 waren es 29. 301 Personen reisten über die schwedisch-russische Grenzstation Torneo ein.
Im März 1917 befanden sich 560 Emigranten in der Schweiz, die 23 Emigrantengruppen angehörten. An anderer Stelle ist davon die Rede, dass in der Schweiz, den USA und Frankreich etwa 300 Emigranten auf die Heimreise nach Russland warteten. Genaue Angaben liegen für die Transitstation Bergen vor. Von England (Aberdeen) nach Norwegen (Bergen) fuhr alle zehn Tage ein Dampfer. Von Bergen aus traten in der Zeit vom 20. März bis 11. Juni 1917 421 russische Emigranten, darunter 216 Frauen, die Rückreise an. Der Literatur können Angaben zu mindestens sechs Gruppen von Rückkehrern entnommen werden.
Als erste traf die Gruppe um Plechanow ein, als zweite die um Lenin ein. Letztere umfasste 39 Personen (darunter 14 Frauen und 2 Kinder), verließ am 9. April die Schweiz und traf am 16. April 1917 in Petrograd ein. Die Reiseroute in Deutschland verlief über Gottmadingen, Stuttgart, Frankfurt am Main, Berlin, Stralsund und Sassnitz. Von hier aus ging es am 12. April mit dem schwedischen Dampfer „Drottning Victoria“ nach Trelleborg. Dann über Malmö und Stockholm nach Torneo. Dabei schloss sich Jurij Koss der Gruppe an. Aus Lenins Gruppe wurden 13 Rückkehrer Opfer der Repressalien, bei 15 Personen fehlen Angaben zu Tätigkeit, Parteizugehörigkeit und Todesjahr. Ihre Rolle im politischen oder wirtschaftlichen Leben des Landes bleibt unklar. Elf Emigranten arbeiteten im Partei- und Staatsapparat, sechs in der Komintern.
Zur dritten Gruppe um Julij Martov gehörten insgesamt 257 Personen. Deren Abreise aus der Schweiz erfolgte am 12. Mai 1917, in Petrograd trafen sie am 22. Mai ein. Einem am 15. Mai im Volksrecht veröffentlichten Bericht zufolge handelte es sich um eine Gruppe von 240 Erwachsenen und 40 Kindern, die in fünf Reisezugwagen die Rückreise antraten. Auch hier sind die ermittelten biographischen Angaben eher spärlich. Es handelt sich um 139 Männer, 61 Frauen und 38 Kinder. Nur in 63 Fällen sind die biographischen Angaben vollständig. Bei 59 Personen ist das Arbeitsgebiet nach der Einreise benannt. So waren zum Beispiel je drei als Diplomat oder Hochschullehrer tätig, fünf als Publizist, sieben in der Komintern, acht im Wirtschafts-, zwölf im Parteiapparat. Für 165 Personen liegen Angaben zur Parteizugehörigkeit vor. 14 waren Anarchisten, 21 Mitglieder der PSR, 38 gehörten dem Bund, 78 der SDAPR an. In den wenigsten Fällen ist ihr weiteres Schicksal bekannt. Sieben gingen später ins Exil, 25 wurden Opfer der Repressalien in den Jahren des Terrors, 35 starben eines natürlichen Todes.

* – Alle Datumsangaben in diesem Beitrag basieren auf dem gregorianischen Kalender. Auf eine Umrechnung der Angaben für Russland, wo 1917 noch der julianische Kalender galt, wurde verzichtet.