von Bernhard Romeike
Um das Parlament konstituieren zu können, wurde während der Französischen Revolution von 1789 das Amt des Alterspräsidenten geschaffen. Es war Ausdruck parlamentarischer Autonomie: Das Parlament kann sich konstituieren, ohne auf Hilfe von außen – einen außerparlamentarische Akteur – oder von Amtsträgern früherer Parlamente angewiesen zu sein. Der Alterspräsident, bereits dem Wort nach das an Lebensjahren älteste Mitglied, leitet die erste Parlamentssitzung, bis der neue Präsident oder Vorsitzende gewählt wurde. Die erste parlamentarische Sitzung auf deutschem Boden, die von einem Alterspräsidenten eröffnet wurde, war die Frankfurter Nationalversammlung von 1848. In der konstituierenden Sitzung des Reichstages am 30. August 1932 hielt die damals 75-jährige Kommunistin Clara Zetkin eine flammende Rede gegen den Faschismus. Die Nazis wussten, weshalb sie 1933 das Amt des Alterspräsidenten abschafften. Im Parlamentarischen Rat zur Gründung der BRD kehrte es wieder.
Der Schriftsteller Stefan Heym, in der auslaufenden DDR der Opposition zugerechnet und medial hochgelobt, war 1994 mit einem Mandat der PDS in den 13. Deutschen Bundestag gewählt worden und sollte ihn als Alterspräsident eröffnen. Wenige Tage zuvor waren Stasi-Vorwürfe gegen ihn in Umlauf gebracht worden. In den Medien wurden nun unterschiedliche Ideen diskutiert, wie reagiert werden sollte – bis hin zum Boykott seiner Rede. Als Heym sie dann hielt, war der Plenarsaal zwar voll, doch Kanzler Kohl kaute demonstrativ Bonbons, die CDU/CSU-Fraktion verweigerte geschlossen den Applaus und seine Rede wurde nicht im Bulletin der Bundesregierung veröffentlicht, wie es sonst Usus war. Vor anderen Wahlen wurden regelmäßig Stasi-Vorwürfe insbesondere gegen Gregor Gysi lanciert, die sich nach der Wahl stets als haltlos erwiesen.
Die Linken dachten damals, es ginge hier ausschließlich gegen die linke Partei, damals noch die PDS, heute die Linke, um ihre politische Konsolidierung zu verhindern. Das ist ein Teil der Wahrheit, aber nicht die ganze. Und nach der Bundestagswahl von 2013 meinten etliche, nachdem die Linke drittstärkste Kraft im Bundestag und damit „Oppositionsführerin“ wurde, sie sei nun im „normalen“ Politik-Betrieb dieses Landes etabliert. Tatsächlich jedoch haben die nach den G20-Krawallen in Hamburg wieder verstärkten Forderungen der Christdemokraten, assistiert von Teilen der SPD, nicht nur gegen den rechten, sondern auch gegen den „linken Extremismus“ vorzugehen, Methode. Der „liberale Populismus“, wie ihn Bernd Stegemann nannte, sucht sich „seine Feinde“ und kämpft gegen sie (Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2017).
Bereits früher wurde auf „Normalismus“ erkannt. Manfred Lauermann hatte in Anlehnung an den Literaturwissenschaftler und Diskursforscher Jürgen Link bereits 2005 in der Berliner Debatte Initial in Bezug auf die Debatten zum Rechtsradikalismus darauf hingewiesen, dass der „Normalismus“ als Gegenbegriff zum Rechtsextremismus „nahezu immer unterbelichtet“ bleibt. Das heißt, „die Mitte“ der Gesellschaft, politisch verkörpert durch Christ- und Sozialdemokraten sowie die Grünen, bestimmt, was „normal“ ist. Der meist unterbelichtete Extremismus der Mitte manifestiert sich im „Normalismus“, den sie selbst, die Mitte, definiert. Zugleich muss, so nochmals Lauermann, „die Mitte ihre Extreme ständig erweitert reproduzieren“. Auf diese Weise definiert sie sich selbst immer wieder neu. Die extremen Ränder sind Bedingung für das mittige Selbstbild des Normalismus, der jedoch zeitweise komprimiert wird und zu anderen Zeiten expandiert. Mit anderen Worten: was jeweils als „normal“ gilt, ist dem Wandel der Zeiten unterworfen.
In den 1990er und 2000er Jahren wurde vor allem die Gefahr des „Linksextremismus“ beschworen und versucht, die PDS aus dem Deutschen Bundestag herauszuhalten – daher das Verhalten von Kohls Christdemokraten bei der Heym-Rede und die Anfeindungen Gysis in den bürgerlichen Medien. Mit den Bundestagswahlen 2005 war dies gescheitert. Das neuerliche Aufrufen des „Linksextremismus“ zeigt jedoch, dass die Normalisten der Bundesregierung den Blick nach links nie ausgesetzt haben.
Derzeit versuchen sie, vor allem die AfD als rechts-bürgerliche politische Konkurrenz auszuschalten. Stasi-Keule geht nicht. Doch bei der Zeitung Die Welt tauchte wenige Tage vor der Bundestagswahl plötzlich eine Mail aus dem Jahre 2013 auf, die angeblich die Spitzenkandidatin Alice Weidel verfasst haben soll. Die Inhalte seien rassistisch und demokratieverachtend, heißt es, Regierungsmitglieder werden als „Schweine“ und „Marionetten der Siegermächte“ bezeichnet. Der Weiterleiter der Mail bleibt anonym, soll jedoch aus Weidels früherem Bekanntenkreis in Frankfurt am Main stammen. Der zynische Politikwissenschaftler hat nicht die Aufgabe, Weidel zu verteidigen, doch genauer hinzuschauen. Jeder, der schon mal eine Mail weitergeleitet hat, weiß, dass man in dem Ursprungstext beliebige Wörter und Satzfetzen löschen oder hinzufügen kann. So hatte Die Welt ihre Schlagzeile, andere Blätter und Sender wiederholten das. Sie hofften, dass unter der Rubrik: die AfD bestreitet Weidels Urheberschaft und ihre Anwälte versuchen, die weitere Verbreitung zu unterbinden, von der eigentlichen „Nachricht“ etwas bei den Lesern hängenbleibt. Im Grunde beweist der Vorgang aber nur, dass die Zeitung, die Friede Springer gehört, die sich wiederum öfters mit Angela Merkel zum Kaffeekränzchen trifft, als Organ des Normalismus agiert. Andere Medien holten die Geschichte wieder hervor, Weidel habe an ihrem Schweizer Wohnort eine syrische Asylbewerberin schwarz beschäftigt. Justizminister Heiko Maas erklärte das AfD-Wahlprogramm für in Teilen verfassungswidrig. Wenn das so wäre, hätte er seines Amtes walten müssen, als das Programm beschlossen worden war.
Ebenfalls wenige Tage vor der Wahl wurde breit publik gemacht, dass der andere AfD-Spitzenkandidat, Alexander Gauland, schon Anfang September erklärt hatte, die Deutschen dürften stolz sein auf „die Leistungen deutscher Soldaten“ im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Er bestreite nicht, „dass die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg in Verbrechen verwickelt war“, und sagte weiter: „Aber ich habe Namen genannt, Rommel und Stauffenberg, und ich habe ganz deutlich gesagt, dass Millionen deutscher Soldaten tapfer waren und nicht in Verbrechen verwickelt waren.“ Es müsse erlaubt sein, diese zu loben. Diese Bekundung wurde allenthalben als „rechtsradikal“ identifiziert. Ältere Leser des Blättchens wissen sicherlich, dass in den ersten dreißig Jahren der alten BRD genau dies die übliche Sichtweise des Normalismus war, zumal in der Hessischen CDU von Alfred Dregger, wo Gauland als junger Mann politisch beheimatet war. Damals gehörten zum Normalismus die positive Sicht auf die Wehrmacht und die Verweisung der Bundeswehr auf Landesverteidigung.
Die 68er-Regierung von Schröder und Fischer drehte das um: der positive Blick auf die Wehrmacht war aus guten Gründen verpönt und zugleich schickten sie die Bundeswehr in weltweite Kriegseinsätze. Die praktische Frage hier lautet, was schlimmer ist, die falsche Tradition oder die falschen Kriege heute. Möglicherweise geht es aber darum, den falschen Kriegen nun auch noch ein falsches Mäntelchen umzuhängen. Dann wäre Gauland der vorzeitige Vertreter eines neuen Normalismus.
Am 1. Juni 2017 hat der Bundestag die Geschäftsordnung geändert und beschlossen, dass künftig das am längsten dem Parlament angehörende Mitglied den neugewählten Bundestag als Alterspräsident eröffnen soll, nicht mehr der lebensälteste Abgeordnete. Damit sollte, so hieß es aus der Großen Koalition, verhindert werden, dass ein AfD-Abgeordneter die Eröffnungsrede in der konstituierenden Sitzung 2017 hält. Die Linke enthielt sich. Da es angeblich nur gegen die AfD gehen sollte, wollte sie sich nicht von jener in Anspruch nehmen lassen. Es war aber klar, dass so auch eine Heym-Rede künftig nicht mehr gehalten werden kann. Der altmodische Helmut Kohl hatte nur Bonbons gelutscht und die alte Tradition nicht angetastet. „Das Bewusstsein für Geschichte ist Ausgangspunkt für alles“, hatte er 2014 in einem seiner letzten Interviews gesagt. Die Normalisten von heute haben auch dies nicht. Sie sind forscher dabei.
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