von Eckhard Mieder
Beinahe wäre ich am ersten Septembersonntag evakuiert worden. Ich wohne in der Nähe der Bombe, die in Frankfurt am Main gefunden wurde und für deren Entschärfung mehr als 60.000 Menschen ihre Wohnungen verlassen mussten. Die Bombe, ein sogenannter Blockbuster (Wohnblockknacker), enthielt fast zwei Tonnen Trinitrotoluol (TNT – eine urdeutsche Erfindung und seit dem Beginn des 20. Jahrhundert industriell hergestellt). Hätte sie seinerzeit ihre Funktion erfüllt und wäre sie in der Luft explodiert, hätte sie Dächer abgedeckt und Fassaden einstürzen lassen und Häuser „geöffnet“ für nachfolgende Brandbomben. Es gibt Filmaufnahmen von den Feuerstürmen, die durch Hamburgs Häuser und Straßen tosten. Es gibt grauenhafte Berichte von Augenzeugen, die Menschen von einem Augenblick zum nächsten im Kamin-Sog des Feuers verschwinden sahen.
Evakuieren heißt laut Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Akademie-Verlag, 1977): „jemdn. wegen einer drohenden Gefahr vorübergehend oder für ständig auszusiedeln“. Ich konnte dem gelassen entgegensehen: Zum Samstagabend waren meine Frau und ich zur 65. Geburtstagsfeier eines Freundes nach Bensheim eingeladen worden. Wir hatten ein Hotelzimmer gebucht und geplant, am Sonntag durch den Odenwald zu wandern. Zudem, ein nächster zeitlicher Zufall, feierten die Bensheimer ihr Winzerfest. Winzerfeste sind unserer Erfahrung nach auch eine Gefahr für Leib und Leben; es besteht die Möglichkeit, in Weinströmen und in einer ausufernd-überschäumenden Geselligkeit abzusaufen. Eine Wanderung an frischer Luft am Tag danach ist eine Option, doch noch ein Winzerfest im nächsten Jahr zu erleben.
Von der Bombe in der Wismarer Straße hatten wir durch einen Bericht in der täglichen Nachrichtensendung „Hessenschau“ erfahren. Ein junger Reporter fand, dass das Tonnen-Teil schließlich „kein Silvesterböller“ sei, sondern eine ernstzunehmende Gefahr. Der Fund der Bombe hatte das Zeug zum medialen Hype, der auch sofort losbrach. Die Bombe beherrschte die Berichterstattung.
Was ich sofort kapierte. Ich erinnerte mich an meine Zeit als Journalistik-Volontär im Bezirk Neubrandenburg und daran, wie sehr die Lokalzeitung und die Bezirksredaktion des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes nach brandaktuellen Neuigkeiten hungerten. Eine Bombe wie die in Frankfurt – wäre eine Bombe an Information gewesen! Spitzenmeldungen! Auf jeden Fall relevanter als der alljährliche Wegzug der Vögel im Herbst und der alljährliche Heimflug der Vögel im Frühling. (Meines Wissens sind Städte wie Neustrelitz, Parchim, Wittstock von alliierten Luftangriffen verschont worden; die Wahrscheinlichkeit, einem Blindgänger nach Jahrzehnten zu begegnen, ging gegen Null. Nachrichtenjournalistisch gesehen war das echt mau und flau.)
Am Sonntag, dem Tag der Evakuierung, liefen zweierlei Dinge. Meine Frau, ich und Freund Peter, der sich zu uns gesellt hatte (auch er Frankfurter und auf der Flucht vor der Bombe), wanderten durch den Odenwald und im Hessischen Rundfunk lief die Live-Berichterstattung. Oder die Parallel-Berichterstattung. Immerhin: In der Grube bei der Bombe waren die Sprengstoff-Profis allein, und kein Filmteam schaute ihnen zu.
Ich beneidete die Akteure vor Kamera und Mikrofon nicht. Minute für Minute, Stunde um Stunde über eine Bombe und ihre Entschärfung zu berichten – das ist eine Art Slow-television. Bisschen wie Norwegen. Da hat ein Sender über 170 Stunden lang live die Frühjahrswanderung von Rentieren übertragen. Ein Quotenknaller!
Sieben Stunden lang wurde auch schon die Zugfahrt von Oslo nach Bergen gezeigt, es folgte eine mehrtägige Sendung, in der das Hurtig-Postschiff Küstenort für Küstenort abfährt. Superknallig!
Meine Frau und ich haben mal in einem norwegischen Quartier einen Abend lang den Landesmeisterschaften beim Schießen auf Stangen zugeschaut. Wenn Sie eine tagelange Wanderung hinter sich haben, frischen Lachs essen und kalten Weißwein trinken und ansehen können, wie Männer (eine Frau war dabei) mit Ohrenschützern überm Kopf in geländegängigen Uniformen und mit angelegten Knarren vor einem begeisterten Publikum schießen – ein echter Knaller!
Jedenfalls erfuhren wir im Laufe des Sonntags (immer mal wieder hineinhörend in die Berichterstattung) und in der Sicherheit des Odenwaldes um uns herum, dass es Verzögerungen gab. Die Entschärfung könne noch nicht beginnen, weil sich etliche Frankfurter weigerten, ihre Wohnungen zu verlassen. „Mir lasse uns nich zwinge!“, hörte ich in meiner Phantasie das Motto des Bürgers, der schließlich ein Recht auf Individualität und Selbstbestimmung hat. Schließlich ist Frankfurt der Hort der Demokratie und der Beginn der Turnschuh-Revolution des Heroen Joschka I.
Hubschrauber mit Wärmesuchkameras kreisten über dem Evakuierungsgebiet.
Freund Peter berichtete, dass er am Samstag eine Postsendung im Briefkasten vorgefunden hatte. In dieser „Information wegen Bombenfund“ wurde angewiesen, dass „eingeschränkt gehfähige Personen, die im Sicherheitsbereich wohnen und einen Transport zu den Betreuungsstellen benötigen“, sich bitte bis „Freitag, den 01.09.2017, 19 Uhr an das eingerichtete Bürgertelefon“ wenden sollen.
„Wie?“ fragte ich ihn. „Am Samstag im Briefkasten, am Freitag aber …“
Er nickte. Fand ich ein bisschen spät. Oder das TNT besitzt eine sogenannte künstliche Intelligenz (von der ich immer öfter lese) und wartet ab, bis jeder, selbst der widerborstigste Bürger den „Sicherheitsbereich“ verlassen hat oder von der Polizei dazu veranlasst wurde, sich aus dem Tötungsgelände einer Bombe zu entfernen. Freiheit hin, Freiheit her.
Jedenfalls sind wir am Sonntagabend doch noch mal aufs Winzerfest gegangen, als wir erfuhren: Die Bombe ist entschärft. Ein Glas Riesling (Auerbacher Fürstenlager) auf die tapferen Sprengstoffentschärfer, auf die rastlosen Journalistinnen und Journalisten und auf die Polizisten im Einsatz musste sein. Und nüchtern gesagt: Ich finde jede Bombe, erst recht die noch nicht geworfenen, aber schon hergestellten, gelagerten, abwurfbereiten echt Scheiße.
Schlagwörter: Bombenentschärfung, Eckhard Mieder, Frankfurt am Main, Odenwald