von Heerke Hummel
Es soll hier das Buch eines hundertjährigen Kommunisten besprochen werden, der die Kämpfe des 20. Jahrhunderts nicht nur als Zeitzeuge erlebte, sondern sich als Mitglied der KPD-Opposition auch an ihnen beteiligte und dennoch seinen Optimismus, seine Hoffnung auf eine bessere Welt nicht verlor. Mitte Juni dieses Jahres ist Theodor Bergmann im Alter von 101 Jahren verstorben, wenige Monate nach Erscheinen seines nun letzten Werks.
Der chinesische Weg gehörte zu den ihn über Jahrzehnte am meisten interessierenden Fragen der Zeitgeschichte. Unter dem Einfluss von August Thalheimer und Heinrich Brandler hatte Bergmann sich schon früh nicht nur gegen den aufsteigenden Faschismus engagiert, sondern auch gegen die stalinistische Entwicklung in der Sowjetunion und später gegen die Diktatur Mao Zedongs sowie dessen „Kulturrevolution“. Umso mehr begrüßte er nach Maos Tod die unter Deng Xiaoping eingeleiteten Reformen hin zu „einer unverwechselbaren chinesischen Strategie“ auf dem Weg zum Sozialismus.
Vierzehn mal fuhr Bergmann nach China, meist für mehrere Wochen, besuchte Dörfer, Fabriken, Schulen, Universitäten und Forschungsinstitute, um die Entwicklung im volkreichsten Land der Erde zu verstehen und nun mit seinem Buch den zweifelnden Sozialisten und Kommunisten verständlich zu machen – ohne allerdings diesen chinesischen Weg als „Modell für die Sozialisten der Industrieländer“ empfehlen zu wollen.
Der Autor malt kein Bild eines Ideals, sondern führt uns die Veränderung der inneren ökonomischen und politischen Bedingungen in ihrer historischen Entwicklung als Kampf und Einheit von Gegensätzen und widersprüchlichen Interessen sowie in ihren spezifischen „Ausdrucksformen proletarischer Demokratie“ vor Augen. Auch wenn er es nicht immer so deutlich formuliert – es geht dabei um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von staatlichem Ziel und Eigeninitiative, von Plan und Markt, von langfristigen Gesamtinteressen der Gesellschaft und kurzfristigen Eigeninteressen der Individuen, von Produktion und Verteilung des Produkts.
Was Bergmann uns schon mit dem Titel seines Buchs vermitteln will: China ist auf dem Weg, nicht am Ziel, auch was die Formen sozialistischer Demokratie betrifft. Für ihn ist das ein bedeutender Unterschied zu den ehemaligen Reformbemühungen in der Sowjetunion. „Die neue Reformführung in China nach 1978“, heißt es in seinem Buch, „hatte viel weniger Schwierigkeiten mit der kritischen Aufarbeitung der Irrtümer der Mao-Ära als Chruschtschow mit der Entstalinisierung.“ Dessen Abrechnung mit der Stalin-Ära habe sich wegen des Drucks der Parteiführung in einer Geheimrede vollziehen müssen und sich auf den Personenkult beschränkt. Die Entmaoisierung dagegen habe in einem öffentlichen Diskussionsprozess im Laufe von drei Jahren stattgefunden und weitere Faktoren benannt, nicht nur den Personenkult. Und man habe sich zur Mitschuld der Partei bekannt, weil sie Maos Verhalten nicht verhinderte. Die KP Chinas, so Bergmann, sei nicht wie die KPdSU erstarrt, sondern nach Maos Tod zu öffentlicher Selbstkritik bereit gewesen. Und Gorbatschows Reformversuch ab 1985 sei „in den ‚Bruderländern‘ und von den ‚Bruderparteien‘ sabotiert“ worden. So sei Michail Gorbatschow nicht nur von einer erstarrten Bürokratie in der Sowjetunion isoliert worden, sondern auch von den Regierungen der RGW-Länder und von der Volksrepublik China.
In der chinesischen Reformpolitik sieht Bergmann „eine Analogie zu Lenins NÖP“ (Neue Ökonomische Politik). Er widerspricht der oft gehörten Behauptung, Sozialismus und Marktwirtschaft seien „im Wesen unvereinbar“. Dafür gebe es nicht nur keine Belege in den Schriften der marxistischen Klassiker. Man müsste auch Deng Xiaoping, Raul Castro und allen anderen sozialistischen Reformern ihre sozialistischen Intentionen absprechen und den Reformen selbst ihren sozialistischen Charakter. Aber davon könne nicht die Rede sein.
Ernstzunehmender als solche Argumente ist Bergmanns Hinweis auf die Ansichten von Bucharin und Klaus Steinitz. Letzterer meint, Markt und Plan gehörten zusammen, ergänzten einander: Der Staat kontrolliere in einer sozialistischen Marktwirtschaft den Markt und beherrsche „nur ‚die Kommandohöhen der Wirtschaft‘ als Volkseigentum“.
Zu fragen wäre an dieser Stelle zunächst: Welche sind denn – sachlich, objektiv betrachtet – die Kommandohöhen, und wodurch sollte dieses Volkseigentum gekennzeichnet sein, sich von der übrigen Wirtschaft unterscheiden? Haben nicht gerade der Ideenreichtum und die Initiative kleiner und kleinster Unternehmen durch die Entwicklung der Mikroelektronik während der letzten fünfzig Jahre die Wirtschaft und die Wirtschaftsweise, sogar die Lebensweise der menschlichen Gesellschaft revolutioniert?
Bergmanns von Steinitz übernommener Hinweis auf die Rolle „öffentlichen Eigentums“ in „Schlüsselbereichen der Wirtschaft und besonders in der Finanzwirtschaft, in den sozialen Sicherungssystemen und in der Infrastruktur“ beantwortet die hier gestellten Fragen kaum. Bergmann spricht von einem „langwierigen Prozess des sozialistischen Aufbaus“ und fragt, „ob die alten Begriffe unter neuen sozialen Verhältnissen noch adäquat sind“. Schon Lenin habe bereits 1919 infrage gestellt, ob man nach den siegreichen sozialistischen Revolutionen noch von Klassenverhältnissen sprechen könne, ob der Begriff der Klasse noch auf die unterschiedlichen Interessengruppen anwendbar sei.
Solche allgemeinen Einschätzungen untermauert Bergmann mit ausführlichen Analysen des technischen, ökonomischen und sozialen Fortschritts sowie des Aufschwungs im Bildungswesen Chinas. Dennoch bleibt seine Ansicht, China befinde sich im Aufbau des Sozialismus, nicht unbedingt schlüssig, auch wo sich der Autor mit gegenteiligen Meinungen auseinandersetzt, etwa mit Prognosen aus den Jahren 2011 und 2014, „dass in zehn, spätestens 20 Jahren die Arbeiterklasse die Kommunistische Partei Chinas […] in einer Revolution stürzen würde.“
Am Schluss seines Buches fasst Bergmann seine Vorstellungen über die weitere Entwicklung des revolutionären Weltprozesses in 13 Thesen zusammen. Darin plädiert er unter anderem für eine Trennung von Staat und Partei, wobei er sich auf Deng Xiaoping und Lenin beruft. Nach dieser Trennung, schreibt er, „kann und muss sich die KP wieder ihren eigentlichen Aufgaben zuwenden: geistige Führung der Gesellschaft durch Vorausdenken der neuen gesellschaftlichen Aufgaben, Erziehung ihrer Funktionäre und Mitglieder zu Vorbildern der Gesellschaft, Kampf gegen die sozialen Missstände und Fehlentwicklungen, die mit der Öffnung einhergehen. Die KP darf nicht mehr für ihre Mitglieder Karriereleiter und Privilegienverteiler sein.“
Dies in absehbarer Zeit ernsthaft zu erwarten, gar zu wollen, verlangt wahrlich großen Optimismus, was den Mensch als solchen, seine Natur und sein Verhalten betrifft. Denn mit der Erziehung und mangelnder Selbstkontrolle im Umgang mit der Macht gibt es genügend schlechte Erfahrungen weltweit.
Theodor Bergmann dürfte sich dessen bewusst gewesen sein. Gleich in seiner ersten These heißt es, auch eine radikale soziale Revolution löse nicht alle Probleme eines Landes und schaffe keine endgültige, neue soziale Ordnung. Die Entwicklung des Sozialismus bedürfe der ständigen Kritik und Reform, was Ausarbeitung und offene Diskussion von Alternativen voraussetze. Da Geschichte, Kultur, sozialökonomischer und technologischer Entwicklungsstand in jedem Land spezifisch sind, müssten auch die Modelle des sozialistischen Aufbaus länderspezifisch sein.
Erkennt man dies an, so bleibt schließlich nur noch die Frage: Und was soll das entscheidende Kriterium eines sozialistischen Weges sein? Die Antwort gibt uns Bergmann mit Hinweis auf einen Kommentar auf der chinesischen Internetseite China.org.de. Der entscheidende Unterschied zwischen kapitalistischer („sozialer“) und sozialistischer Marktwirtschaft bestehe darin, „dass bei dieser Planwirtschaft die Bedürfnisse der Gesellschaft und der Bevölkerung maßgeblich sind, nicht die Rendite des investierten Kapitals oder die Forderung der Aktionäre nach einem hohen Shareholdervalue.“
Dass für eine solche Strategie eine dementsprechend starke, unabhängige politische Zentralmacht erforderlich ist, bleibt allerdings unausgesprochen. Dennoch liegt hierin die Erklärung für den Erfolg der Volksrepublik China bei der Gestaltung einer neuen Gesellschaft, die das Gesicht der Welt im 21. Jahrhundert maßgeblich bestimmen dürfte.
Ob man das eines Tages Sozialismus nennen wird, ist nicht wichtig. Von Bedeutung für uns Europäer kann nur sein, ob und wie wir es schaffen, nicht dem chinesischen Weg etwas entgegen zu setzen, sondern der europäischen Politik eine gleichermaßen wirkungsvolle Macht über die Ökonomie und gesellschaftlich sinnvollen Orientierungswillen zu geben – entsprechend unseren geschichtlichen, kulturellen, sozialökonomischen und technologischen Bedingungen.
Theodor Bergmann: Der chinesische Weg. Versuch, eine ferne Entwicklung zu verstehen, VSA Verlag, Hamburg 2017, 140 Seiten, 14,80 Euro.
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