von Wolfgang Hochwald
Meine pflegebedürftige Mutter, die ihr ganzes Leben lang gerne sprach, hat vor einiger Zeit das Reden fast völlig eingestellt. Umso erfreulicher war es, dass sie – als ich ihr erzählte, dass ich zum dritten Mal zusammen mit meinem Freund Günter zu einem Musikfestival fahre – ihr Schweigen aufgab. Und – wieder ganz (91-jährige) Mutter – ihren (fast 60-jährigen) Sohn fragte, ob wir uns denn warm genug anziehen würden, es da auch was zu essen gäbe und was unsere Frauen dazu sagen würden. An meine Mutter, die länger als 50 Jahre im Kirchenchor sang, musste ich auch denken, als wir am zweiten Festivaltag gegen 11 Uhr die Halderner Kirche betraten und eine große Gruppe von Senioren in Rollstühlen und mit Rollatoren sahen. Das örtliche Altersheim hatte entschieden, den Auftritt des Berliner Chores „Cantus Domus“ zu besuchen, und so lauschten die Senioren ergriffen dem Gesang des Chores.
Klassischer Chorgesang, Altenheimbewohner als Zuhörer, die Dorfkirche als einer der Festivalorte – treffender kann man die Besonderheit des Haldern Pop Festivals und seine Verwurzelung in der Dorfgemeinschaft nicht ausdrücken.
Generationsübergreifend ging es auch am Nachmittag des zweiten Festivaltages auf der Hauptbühne bei „Penguin Café“ zu. Die Band wurde 2009 von Arthur Jeffes gegründet, dessen Vater Simon bis zu seinem Tod im Jahr 1997 über 24 Jahre das „Penguin Café Orchestra“ leitete. „This is a song my dad wrote“ (Dies ist ein Lied, das mein Vater geschrieben hat.) kündigte Jeffes denn auch das ein oder andere Lied an. So entwickelt der Sohn die Musik seines Vaters weiter, eine Musik, die basierend auf Folk-Elementen und mit drei Streichern, Kontrabass, Ukulele, Klavier und Harmonium als „Chamber Jazz“ klassifiziert wird.
Von der ganz anderen Seite des Musikspektrums kommend – Alternative Rock mit drei E-Gitarren, aber auch dem gelegentlichen Einsatz von Geige und Cello –, setzte der Sänger und Chef der Band „The Afghan Whigs“, Greg Dulli, ebenfalls ein nachdenkliches Zeichen. Band-Mitglied und Gitarrist Dave Rosser sei Ende Juni an Darmkrebs gestorben, aber er, Dulli, sei sicher, dass Rosser am Morgen dieses Auftritts bei ihm gewesen sei. Die hart treibende, dennoch melodiereiche Hard-Rock-Musik der Band klang jedenfalls so, als wenn nicht nur drei, sondern tatsächlich vier E-Gitarren spielten.
So passen die Dinge zusammen in Haldern. Der Erfurter Musiker Clueso, als Stammgast auf Platz 1 der Albumcharts einer der kommerziell erfolgreichsten Künstler des Festivals, sang zum Abschluss eines sympathischen Auftritts den „Puhdys“-Song aus dem Film „Die Legende von Paul und Paula“: „Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt / Sagt die Welt, dass er zu früh geht. / Wenn ein Mensch lange Zeit lebt / Sagt die Welt, es ist Zeit …“
Auch in diesem Jahr schuf Haldern Pop wieder ein Gesamtbild, in dem die unterschiedlichsten Stile und Musikgenres ineinandergriffen und das so schön ist wie die Kassetten, auf denen wir früher die Musik für unsere Liebsten zusammengestellt haben. So fesseln Newcomer, die zum Teil bislang nur ein Mini-Album mit fünf Liedern veröffentlicht haben, das Publikum genauso wie ältere, erfahrenere Musiker und Bands.
Gelungene Pop-Musik bot beispielsweise der Brite Tom Grennan, der mit seiner rauen, starken Stimme und seinen melodiösen Liedern hitverdächtig klingt. In der Kirche gab es Klaviermusik vom Londoner Matt Maltese, der auch die große Geste kann und den ich für den nächsten James-Bond-Song verpflichten würde. Der Niederländer Joep Beving improvisierte auf dem Piano, und auch wenn das gelegentlich sehr an Chopin oder Satie angelehnt schien, bestach er durch sein sympathisches Auftreten und spielte – ganz stolzer Vater – ein Lied, das er für seine kleine Tochter geschrieben hatte. An Joni Mitchell oder Suzanne Vega erinnerte die Folk-Musik der Australierin Julia Jacklin.
Die Neuseeländerin Aldous Harding lieferte einen verschrobenen Auftritt mit Musik, die sie selbst als „gothic fairytale“ (Schauermärchenmusik) bezeichnet, dabei aber auch an Kate Bush erinnerte. Die „Party“, die sie im Titelsong ihrer jüngsten CD besingt, ist jedenfalls eher etwas für schwermütige Gäste. Ganz anders die Publikumslieblinge „Bilderbuch“, die als letzte Band des Festivals auf der Hauptbühne mit ihrem österreichischen Flair und einer an Falco erinnernden Mischung aus Punk, Pop und Rock die Fans zum Tanzen brachte. In Bewegung kam das Publikum auch bei Nick Waterhouse, dessen Musik auf Rock’n’Roll und Swing der fünfziger Jahre fußt und der sich im Gegensatz zur Materialschlacht anderer Bands sehr bodenständig zeigte. Als er eine Saite seiner Gitarre austauschen musste (was seinen hervorragenden Musikern Gelegenheit für Soli gab), kam er mit den Worten zurück: „Ich toure nur mit einer Gitarre, danke für eure Geduld.“
So gut wie das Halderner Publikum – das zwischen ungeboren und älter als 75 ist – tanzen kann, so aufmerksam hört es in den vielen ruhigen Momenten zu. Etwa beim englischen Jazz-Trio „Mammal Hands“, das in klassischer Besetzung – Klavier, Saxophon, Schlagzeug – eine faszinierende Stimmung schuf. Oder in der Kirche bei Mario Batkovic, der seinem Akkordeon ungewöhnliche Töne entlockte und auch dadurch faszinierte, dass sich die Musik in seiner Mimik mehr widerspiegelte als bei jedem anderen mir bekannten Musiker.
Wunderbar schräg der Auftritt von Voodoo Jürgens, mit bürgerlichem Namen David Öllerer, der wie ein wienerischer Tom Waits mit morbiden, düsteren, aber immer gut gelaunten Liedern daher kam. Für Freunde des Hip Hop gab es schließlich einen nächtlichen Auftritt von „Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi“. Hinter dem Käptn verbirgt sich der Schauspieler Robert Gwisdek, Sohn von Michael Gwisdek und Corinna Harfouch. Auch wenn ich mich eigentlich nicht mit Hip Hop anfreunden kann, bietet Haldern Pop die Möglichkeit, eine solche Band zu erleben und in Ehrfurcht davor zu versinken, welche unglaublichen Textströme Gwisdek in eineinhalb Stunden von sich gab.
Einer meiner Höhepunkte war der Auftritt von „Die Höchste Eisenbahn“. Die deutsche Band macht warme, sonnige Musik und erzählt skurrile Geschichten. Das Spiegelzelt platzte bei diesem Auftritt aus allen Nähten und viele Besucher verfolgten das fulminante Konzert draußen auf der Leinwand. Die Band, die es verdient hätte, das nächste Mal auf der Hauptbühne zu spielen, war sichtlich angerührt von der Begeisterung des Publikums und ich lege mich fest: Francesco Wilking und Moritz Krämer bieten die besten Gesangsharmonien seit den Beatles und sind mindestens so lustig wie John Lennon in seinen besten Momenten.
Schließlich haben mich „Hurray For The Riff Raff“ (allein dieser Name!) begeistert. Die Band wird geprägt durch Alynda Segarra, eine New Yorkerin mit puerto-ricanischen Wurzeln, die auf der Bühne ein wahres Energiebündel ist. Mit ihrer Band bot sie aus dem Album „The Navigator“ mitreißende Musik zwischen Pop, Folk, Country und Independent Rock dar und wetterte vehement gegen die Ungerechtigkeit in der Welt, den derzeitigen Präsidenten der USA und dessen Politik. „Hurray For The Riff Raff“ lieferten für mich mit dem Song „Pa’Lante“ (Vorwärts) das heimliche Motto des diesjährigen Festivals. Segarra erläuterte zu dem Lied: „Wenn du vorwärts willst, musst du wissen, wo du herkommst. Und wir müssen zusammen nach vorne gehen, weil es Menschen gibt, die uns entzweien wollen.“
So funktioniert aus meiner Sicht auch Haldern Pop: Basierend auf der Erfahrung von 34 Jahren und eingebunden in die Struktur des Dorfes, schaffen die Festivalmacher zusammen mit den Besuchern drei generations- und genreübergreifende Festivaltage, aber verweilen nicht darin, sondern schauen und gehen weiter vorwärts. In diesem Sinne: Pa’Lante Haldern Pop.
PS: Als ich meiner Mutter nach der Rückkehr erzählte, dass das Wetter erstaunlich gut und das Essen sowieso abwechslungsreich war und unsere Frauen sich mit uns gefreut hätten, dass wir so viel bewegende Musik gehört hätten, ließ sie das unkommentiert. Aber sie lächelte dazu.
Schlagwörter: Festival, Haldern, Pop, Wolfgang Hochwald