von Gertraude Clemenz-Kirsch
Die Pariser Métro funktioniert im Prinzip genauso wie die Bahnen in Moskau, Prag oder London. Man sollte sich immer den Endpunkt der Linie merken, außerdem helfen die unterschiedlichen Farben, mit denen die Linien gekennzeichnet sind. So ist die Sieben gelb, die Zwei grün. Der Preis? Ja, wie überall: Er bleibt nicht konstant und sinkt nie. Aber für den Besucher, der mindestens eine Woche bleiben möchte, ist die Carte NAVI GO am günstigsten, sie gilt von Montag bis Sonntag, und man kann damit auch den Bus benutzen.
À propos Métro: Le Métropolitain – kurz die Métro – sollte zunächst eine städtische Eisenbahn werden. Der in seine Stahlkonstruktionen verliebte Ingenieur Gustave Eiffel wollte 1871 gar die Boulevards mit solch einer Hochbahn garnieren. Fünfzehn Jahre später wurden dann die Entscheidungen getroffen. Der Pariser Stadtrat, so liest man im Dictionnaire de Paris, beschloss un chemin de fer à tradition électrique, composé de cinq lignes formant un réseau de soixante-cinq kilomètres environ (eine elektrische Eisenbahn mit fünf Linien, die ein Netz von ungefähr 65 Kilometer bilden).
Man wühlte die Erde auf, und wie immer bei solchen Grabungen fand man Reste aus vergangenen Zeiten. Einige von den interessanten Überbleibseln sind noch heute in den Metrostationen zu sehen. Im Jahr 1900, zur Pariser Weltausstellung, fuhr die erste Pariser Linie mit drei Waggons, wovon einer mit Polsterbänken aus rotbraunem Leder ausgestattet war. Das war die erste Klasse, die anderen hatten bequeme Sitze aus lackierten Holzstangen. Schon diese eine Linie – Maillot–Vincennes – fuhr mir 161 Wagen im Fünf-Minuten-Takt, und in Stoßzeiten gar alle zwei Minuten. Das Besondere an dieser Métro war, dass sie mit Gummireifen ausgestattet wurde. Sie kommt auch heute noch eher leise angerauscht als angerattert.
Derzeit fahren sechzehn Linien auf den zirka 214 Kilometern Gleisen, und ständig wird erweitert. Es gibt 297 Stationen, die im Regelfall nicht weiter als 700 Meter voneinander entfernt liegen. Früher waren die Eingänge, die bouches du métro, in reinstem Jugendstil gestaltet, einige davon sind noch erhalten.
1,3 Milliarden Menschen benutzen jährlich die Métro.
Während der Fahrt kann man die Pariser studieren: Da sieht man eine füllige Schwarze in bunter Robe, die mit geschlossenen Augen vor sich hin singt, und für den gut gekleideten älteren Herrn neben ihr, vielleicht ein Angestellter der Crédit Lyonnais, ist dies völlig normal. Alles akzeptiert sich hier: die verschleierten Araberfrauen, Jugendliche mit Handys in den Ohren, verwahrloste Bettler neben schicken Pariserinnen.
Beim Umsteigen begegnet man in den endlosen Gängen immer wieder Menschen, die sich mit Kunststückchen ein paar Cents verdienen. Manchmal halten sie auch kurze Reden in den Zügen oder musizieren. Auch reichlich Armut, Elend und Hoffnungslosigkeit begegnen dem Flaneur. Die Gründe sind mannigfach. Oft kommen junge Leute ohne Papiere, aber mit großen Erwartungen nach Paris. Doch weder finden sie Arbeit noch eine Wohnmöglichkeit, und so gehören sie nun zu den vielen SDF – den sans domicile fixe, Menschen ohne festen Wohnsitz –, also Obdachlosen. Den Begriff Clochard verwendet man heute aufgrund seiner abschätzigen Nebenbedeutung kaum mehr. Natürlich bedauern die Abgeordneten hin und wieder die Präsenz der Obdachlosen in den Quartieren der Stadt. Ein jämmerliches Touristenspektakel wären sie und eine Last für die Einwohner. Dennoch sind sie die letzten Repräsentanten einer langen Tradition. Vagabunden, Bettler, Ganoven, Gauner und Spitzbuben machten in früheren Zeiten bis zu einem Drittel der Pariser Population aus. Im Dictionnaire de Paris ist die Rede davon, dass man seit Philippe II. August – seit 1180 König von Frankreich – bis hin zu Ludwig XVI. bis zu mehr als 40.000 Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung zählte. Heute schätzt man, dass in Paris um die 25.000 Obdachlose unterwegs sind.
Meist sind es Gestrandete. Immer wieder sieht man die gleichen Gesichter an den gleichen Orten, vor allem in der Métro und an deren Lüftungsschächten. Es ist ein einziger Kampf ums Überleben und ein Dauerstress für diese Menschen. Sie existieren ohne Zeitmaß und Orientierung, der Hunger ist ihre Uhr. Vor allem aber leben sie ohne Bindung an andere, haben keinerlei Gefühle einer Zugehörigkeit. Ihr einziger Stabilitätsanker ist der Ort, an dem sie sich aufhalten: eine Parkbank, ein Square oder ein Platz in der Metro. Krank werden dürfen sie nicht, ihr Körper hat für das Leben auf der Straße, bei Hitze oder Kälte, zu funktionieren. Was sie fast immer bei sich haben, ist Alkohol. Er tröstet, erleichtert das Betteln, hilft beim Kampf gegen Kälte und Schmerzen, erleichtert das Einschlafen, hat aber auch die bekannten gefährlichen Nebenwirkungen wie schnelles Abkühlen des Körpers, vorzeitiges Altern und vieles mehr
Ich traf auf Alfrede und setzte mich zu ihm. Bereitwillig erzählte er mir aus seinem Leben: In dem kleinen polnischen Örtchen Gogolin bei Oppeln in Oberschlesien wurde er geboren und ging später mit seinen Eltern nach Deutschland, nach Köln. Dort besuchte er als kleiner Junge die Schule, doch die Eltern zog es weiter westwärts, nach Paris. Bald starb die Mutter, dann der Vater. Alfrede griff zum Alkohol und landete auf der Straße. Auf meine Frage, was er täglich an Alkohol brauche, sagte er mir ohne zu zögern: zwei Flaschen Wein und zwei Flaschen Bier. Ich wollte ihm ein belegtes Baguette holen, da schüttelte er den Kopf und erklärte mir, dass sein Magen nichts Essbares mehr vertrüge: „Leute schaffen sechs Monate nichts essen, dann essen, nächste Tag kotzen, kotzen, kotzen …“ Alfrede ist fünfzig Jahre alt.
Fast ist es eine Selbstverständlichkeit, sich nach einer solchen Begegnung etwas genauer in dem Milieu der Besitzlosen und der Einsamen umzuschauen.
Alors, lassen wir den Ausflug zum Montmartre noch etwas warten und fahren zur Église Madeleine. Wie finden wir sie am schnellsten? Wenn wir auf dem Stadtplan die Place de la Concorde entdeckt haben, folgen wir der repräsentativen Achse Pont de la Concorde und Rue Royale. An deren einem Ende steht das prächtige Palais Bourbon. Einst für die Duchesse Bourbon, die Tochter von Madame de Montespan und Ludwig XIV. gebaut, dient es seit 1798 als Sitz der Nationalversammlung. Acht Jahre später hatte Napoleon die Vorderfront mit Säulen versehen, um sie der Madeleine-Kirche anzugleichen. Diese hatte er im selben Jahr, 1808, in einen „Ruhmestempel zu Ehren der französischen Armee“ umbauen lassen.
Während man in dieser Kirche der kalten Architektur wegen ein wenig fröstelt, wird das Herz warm, sobald man durch den einfachen Seiteneingang an der rechten Sockelwand tritt. Unter der Kirche befindet sich ein Gewölbe, das sich um das gesamte Gebäude herum windet. Foyer de la Madeleine liest man an der Tür und findet beim Eintreten eine Art Gaststätte vor, in der Menschen sitzen und ihr Mittagessen einnehmen. Doch dieser Ort bietet mehr, viel mehr: Das Foyer ist eine Erfindung der Pfarrkirche, die auf der sehr alten Tradition des Beistandes und der gegenseitigen Hilfe beruht. Hier arbeiten Menschen ehrenamtlich für andere, die sich in komplizierten Lebenssituationen befinden. Ob Arbeitslose, Alleinstehende, Einsame, gleich welcher Konfession, sie alle finden in diesen Gängen Zuwendung und Betreuung. So sitzt der Rentner neben dem alleinstehenden Architekten und lässt sich seine Mahlzeit für „Dreifünfzig“ schmecken. Gern treffen sich hier auch die unterschiedlichsten Leute, die in unmittelbarer Nähe arbeiten.
Außer den an die Hundert ehrenamtlich Arbeitenden besteht die Mannschaft aus acht Angestellten, die sich um das Funktionieren der Einrichtung kümmern, denn außer der Bereitstellung von Malzeiten wird den Hilfesuchenden in allen sie betreffenden Fragen wie Arbeitssuche und Ausfüllen von Anträgen oder vielleicht mit einem Gespräch gegen die Einsamkeit entgegengekommen. So bietet die Madeleine zurzeit vierhundert bis sechshundert Menschen eine Heimstatt, aus der sie keiner vertreibt.
Wird fortgesetzt.
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