von Clemens Fischer
Der Film „Dunkirk“ von Christopher Nolan lasse, so Lukas Stern in der Berliner Zeitung, den Zuschauer „direkt hineinsehen […] in das Gesicht des Krieges“, und bei Stern klingt das wie ein positives Urteil. Meint aber „diese […] durchgehaltene […], monströse […], permanent wirkende […] Kontingenz des Sterbens“. Und in der Tat wirkt der Film, als sei es dem Schöpfer darum gegangen, den bis zur Unerträglichkeit gesteigerten Naturalismus der ersten 20 Minuten von Spielbergs „Der Soldat James Ryan“ auf 107 Minuten auszudehnen – und zwar ohne jegliche Handlung im Sinne einer erzählten Geschichte. Und unter Ausblendung aller historischen Hintergründe und Zusammenhänge. Dafür mit Mitteln und Effekten, die Thomas E. Schmidt in DIE ZEIT so zusammenfasste: „Nolan setzt die technischen Möglichkeiten des heutigen Kinos ein, um eine äußerste Intensität des Miterlebens des Krieges zu erzeugen. In einem Saal mit gutem Soundsystem spürt man das Tackern des MG im Gesicht und hofft, dass es den Nebenmann erwischt […].“
Herausgekommen ist dabei ein Film, der gegenüber einschlägigen Videospielen allerdings zumindest den Vorteil hat, dass der Betrachter nicht auch noch zum Mitmetzeln animiert wird.
Dabei steht Dünkirchen für einiges – etwa als Menetekel dafür, was man zu gewärtigen hat, wenn man einem Aggressor nicht rechtzeitig in die Parade fährt. So hatten Frankreich und Großbritannien zwar nach Hitlers Überfall auf Polen am 1.September 1939 Deutschland zwei Tage später den Krieg erklärt – aufgrund eingegangener Beistandsverpflichtungen gegenüber Warschau – und ein voll ausgerüstetes britisches Expeditionskorps in Stärke von fast 320.000 Mann wurde nach Frankreich und Belgien verlegt, aber Kampfhandlungen wurden nicht eröffnet. London und Paris spekulierten immer noch darauf, dass Hitler vorwiegend Russland im Visier hätte, woran sie ihn keinesfalls hindern wollten.
So konnte die deutsche Wehrmacht ungestört Polen bis zur mit Stalin vereinbarten Demarkationslinie erobern, dann ihre Kräfte umgruppieren und am 10. Mai 1940 mit geballter Kraft Frankreich angreifen, wobei ein Hauptstoß durch Belgien und die Niederlande geführt wurde, deren Neutralität sie, wie schon im ersten Weltkrieg, nicht schützte.
In kürzester Zeit hatten die Deutschen knapp 400.000 Mann, überwiegend britische Truppen, in Dünkirchen eingeschlossen – mit dem Rücken zum Meer. Im Kessel bestanden nur geringe Schutzmöglichkeiten gegen die Einwirkung durch Artillerie und aus der Luft. Trotzdem ordnete Hitler am 24. Mai 1940 an, die weitere Einschnürung der Stadt zu stoppen. Das verhalf der britischen Militärführung zu einer entscheidenden Atempause, um in der bis dato größten Evakuierungsoperation der Kriegsgeschichte noch etwa 330.000 Mann über den Kanal zu holen – unter Aufbietung aller halbwegs seetauglichen Schiffe und Boote an Englands Südküste. Bewaffnung und Ausrüstung mussten die Truppen zurückgelassen – darunter mehr als 65.000 Transportfahrzeuge aller Art, rund 20.000 Motorräder, mehr als 2400 Geschütze und 445 Panzer, fast 380.000 Tonnen Verpflegung und sonstiger Nachschub, 68.000 Tonnen Munition und 147.000 Tonnen Treibstoff.
Über die Gründe für Hitlers Befehl besteht bis heute keine abschließende Klarheit. Man weiß, dass er Großbritannien nicht unbedingt zum Feind haben wollte und am liebsten neutralisiert hätte. Auch der Flug von Hitlers Stellvertreter Heß nach England im Mai 1941, also unmittelbar vor dem Überfall auf die UdSSR, ist immer wieder in einen solchen Kontext gestellt worden …
Stoff genug also für einen Film, wie ihn Nolan jedoch offenkundig nicht machen wollte. Schade, denn „das Gesicht des Krieges“ haben andere Regisseure schon weit beeindruckender auf die Leinwand geholt – etwa Juri Oserow mit seiner Darstellung der Schlacht am Kursker Bogen im ersten Teil seines Epos „Befreiung“, Francis Ford Coppola („Apocalypse Now“), Stanlay Kubrick („Full Metal Jacket“), Oliver Stone („Platoon“) oder Clint Eastwood („Flags of Our Fathers“).
Von Nolans haarsträubender Albernheit mal ganz abgesehen, ein – während die Heimholung der britischen Truppen noch nicht richtig Fahrt aufgenommen hat – von englischem Boden gestartetes Jagdflugzeug, dem nach erfolgreichem Luftkampf der Motor mangels Sprit verreckt, – bis zum Abschluss der Evakuierung am Himmel über Dünkirchen zu lassen, auf dass es in diesem manövrierunfähigen Zustand zu allem Überfluss noch einen deutschen Stuka abschießt und anschließend auf dem Strand unbeschadet landet …
„Dunkirk“, Drehbuch und Regie: Christopher Nolan. Derzeit in den Kinos.
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