von Hubert Thielicke
Die Kiewer Führung drängt vehement in Richtung NATO, die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk haben einen Staat „Kleinrussland“ ausgerufen. Trotz aller Vereinbarungen über Waffenstillstände flammen die Kämpfe im Osten der Ukraine immer wieder auf. Der Westen hat umfangreiche Sanktionen gegen Russland erlassen; der Kongress der USA hat sie im Alleingang verschärft. Die Ukraine-Krise wird Europa noch lange beschäftigen. Umso wichtiger erscheint es, ihre Ursachen und Hintergründe noch besser zu kennen.
Der umfangreichen Literatur zum Thema hat nun der Ukraine- und Russland-Kenner Manfred Schünemann seine Sicht der Dinge hinzugefügt. Dem früheren DDR-Diplomaten kommt zugute, dass er die Region aus eigener Anschauung kennt, während der sowjetischen Zeit dort tätig war, die Entwicklung beider Staaten seit Beginn ihrer Unabhängigkeit aufmerksam verfolgt und analysiert sowie zahlreiche Publikationen dazu vorgelegt hat. Im Unterschied zu manchen spekulativen Berichten über die Ukraine bringt er Basiswissen, lässt die Fakten sprechen und bettet die innere Entwicklung in die weltpolitischen Prozesse ringsum ein.
Die im Titel gestellte Frage – „Zerbricht die Ukraine?“ – ist wohl rhetorisch gemeint. Denn der Autor beantwortet sie nicht, will es auch gar nicht. Als ehemaliger Diplomat weiß er zur Genüge, dass die Zukunft offen ist, noch manche Wendungen möglich sind. Seine Analyse macht aber deutlich: Die Ukraine ist ein zerrissenes Land, zwischen ihrem Osten und ihrem Westen bestehen riesige Unterschiede. Verschärft wird die Lage durch Korruption und die Herrschaft der Oligarchen-Clans.
In mehreren Kapiteln werden die verschiedenen Phasen der Entwicklung des Landes seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 untersucht: Gesellschaftswandel und Konsolidierung (1991–2004), Machtkämpfe und Staatskrisen (2004–2010), das Janukowitsch-Regime und seine vertanen Chancen (2010–2014) und schließlich die Errichtung eines konservativ-nationalistischen Regimes (2014/15). Durch alle diese Etappen zieht sich die Kernfrage der ukrainischen Gesellschaft: das Verhältnis zu Russland und zur sogenannten westlichen Wertegemeinschaft.
Unter den ersten beiden Präsidenten und später unter Viktor Janukowitsch überwog das Streben nach einem Ausgleich zwischen beiden Richtungen. Dafür steht insbesondere die multivektorale Politik des zweiten Präsidenten Leonid Kutschma. In diesen Phasen wurde ein Interessenausgleich zwischen Russland und dem Westen angestrebt, was sich in einer Art Balance- oder Schaukelpolitik niederschlug. Unter Janukowitsch spitzte sich allerdings der Streit um das Assoziierungsabkommen mit der EU zwischen Regierung und Opposition zu einer Grundsatzentscheidung über den künftigen Platz der Ukraine in Europa zu: „Der innenpolitische Machtkampf wurde damit immer stärker Teil der geostrategischen Auseinandersetzungen zwischen dem Westen und Russland, was wiederum zu einer Verschärfung der Spannungen in und um die Ukraine führte und die europäische Sicherheitsordnung ernsthaft gefährdete.“ Die Politik des Ausgleichs zwischen guten Beziehungen zu Russland und einer Einbindung in die EU wurde beendet und ein scharfer Abgrenzungskurs gegen Moskau in Gang gesetzt.
Von besonderem Interesse sind auch die Ausführungen zum ukrainischen Parteiensystem: Um bei Wahlen für die Kandidaten der wirtschaftlichen Interessengruppen und der Verwaltungsbürokratie legal die notwendige Unterstützung zu organisieren, formierten sich „Parteien der Macht“, die in den einzelnen Phasen zwar unterschiedliche Bezeichnungen führten, aber immer der Sicherung von Positionen für die Wirtschaftsoligarchen dienten.
Der Analyse der Entwicklungsphasen ist ein grundsätzliches Kapitel zum „Nationalstaatskonsens einer gespaltenen Gesellschaft“ vorangestellt. Beleuchtet werden Fragen von Geschichte, Wirtschaft, Sprache, aber auch die Rolle der Kirchen. Der Autor verweist auf die besondere Bedeutung der Formierung einer nationalstaatlichen Identität für die dauerhafte Sicherung der Eigenstaatlichkeit. Im Grunde handele es sich wie im gesamten postsowjetischen Raum um eine „nachholende nationalstaatliche Identitätsbildung“. Das wiederum erklärt die große Rolle, die die herrschenden Eliten der Durchsetzung der ukrainischen Sprache und der Geschichtspolitik beimessen. Es geht um eine „Ukrainisazija“ (Ukrainisierung) als ideologische Grundlage und Staatsdoktrin.
Natürlich lassen sich in einer solchen Publikation nicht alle Fragen erschöpfend beantworten, ist das eine oder andere auch umstritten. Das gilt beispielsweise für die These des Autors, die Ukrainer könnten „auf eine mehr als tausendjährige Geschichte zurückblicken“. Der erste russische Großstaat – die Kiewer Rus – entstand zwar im 10. Jahrhundert neben Nowgorod im Norden im südlichen Kiew; allerdings konnte damals von einer Ukraine nicht die Rede sein. Die feudal zersplitterte Rus fiel schließlich Mitte des 13. Jahrhunderts dem Mongoleneinfall zum Opfer. Die heutige Ukraine, was im Russischen „Grenzgebiet“ bedeutet, geht nach Meinung vieler Historiker vor allem auf die Ansiedlung russischer Bauern und Kosaken im Grenzland zu den von Tataren und Osmanen beherrschten Gebieten am Schwarzen Meer im späten Mittelalter zurück.
Die größten Differenzen bestehen in der Ukraine zwischen Ost und West, aber auch die Rolle solcher Minderheiten wie der Russinen (Ruthenen), Ungarn und Rumänen in der Südwestukraine sollte nicht unterschätzt werden. Im Hinblick auf die Krim spricht der Autor von einer „völkerrechtswidrigen Angliederung an Russland“, ohne auf die von einigen Völkerrechtswissenschaftlern vertretene Meinung einer Sezession der Krim einzugehen. Der von Schünemann gegebene Überblick über die Vorgeschichte der Abspaltung lässt ihn allerdings zu der Schlussfolgerung kommen, „dass die Bevölkerung der Krim mehrheitlich für einen Beitritt zur Russischen Föderation war und die Maßnahmen dazu unterstützte bzw. ohne Widerstand hinnahm“.
Die Analyse wird ergänzt durch einen sehr informativen Anhang mit Erläuterungen zu Begriffen und Personen sowie mit Daten zur Bevölkerung, zum politischen System, zur Wirtschaft sowie den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen seit 1990. Insgesamt sei das Büchlein allen empfohlen, die sich mittels einer kenntnis- und faktenreichen Untersuchung über die Vorgeschichte der heutigen Probleme in der Ukraine informieren wollen.
Manfred Schünemann: Zerbricht die Ukraine? Krisen, Konflikte und Krieg seit der Unabhängigkeit 1991. Ursachen und mögliche Folgen, Verlag am Park, Berlin 2017, 171 Seiten, 14,99 Euro.
Schlagwörter: Hubert Thielicke, Manfred Schünemann, Ukraine