20. Jahrgang | Nummer 15 | 17. Juli 2017

Fundstücke

von Renate Hoffmann

Es wird das zweitwichtigste Museum Griechenlands und das bedeutendste der minoischen Kultur genannt. Deshalb sollte man als Kretareisender nach der Ankunft in Iraklio (Heraklion) auf direktem Wege zum Archäologischen Museum eilen (Xanthoudidou 1). Prunkt doch die Insel damit, unserem Kontinent den Namen gegeben zu haben: Zeus und die phönizische Königstochter Europa unter der schattenspendenden Platane in Gortys … Und von den Minoern heißt es, sie hätten es im europäischen Raum zur ältesten Hochkultur gebracht, getragen von politischer Umsicht, geistiger Präsenz, blühenden Künsten und auffallender Friedfertigkeit.
Zur Einstimmung auf große Kulturgeschichte empfängt ein ruhiger Garten, in dem man nach dem musealen Rundgang nachdenklich und überwältigt eine der Bänke aufsucht. Sich durch die historischen Abläufe von der „Vorpalastzeit“ (3000 – 2600 v. Chr., die Angaben differieren) bis zur römischen Besetzung (67 v. Chr. – 4. Jahrhundert n. Chr.) zu finden – ein mühseliges Unterfangen. Ich gebe es auf, rechne in Jahrtausenden und verlege mich aufs Schauen und Staunen.
Wie es dem weiblichen Trachten ansteht, lockt das Geschmeide. Die große Vitrine umstehen ausschließlich Damen! Ein zierlicher goldener Kopfschmuck aus dünnen Blättern gearbeitet. Sie werden bei jedem Schritt zärtlich geklimpert haben. Wahrscheinlich trug man dieses kostbare Stück am Haaransatz. Blüten und zierliche Blattformen, welche vor Zeiten Diademe schmückten. Stirnbänder, ziseliert und mit winzigem Granulat besetzt, die ein schönes Gesicht noch schöner machen. Sie sollten wieder in Mode kommen, es muss ja nicht gleich pures Gold sein. Doppelt geflochtene Ringe (empfehlenswertes Unterpfand für Eheleute) und schmale gedrehte Goldfäden, gedacht für einen schlanken Hals oder das Handgelenk. Die in Gold gefassten edlen Schmucksteine wecken Begehrlichkeiten. Der tiefblaue Lapislazuli mit den Goldäderchen trifft meine eitle Seele.
Das Glanzstück, ein heiteres Kuriosum, ist, seiner Winzigkeit wegen, nur unter der Lupe zu besehen. Ein Frosch. Zoologisch betrachtet, eigentlich eine Kröte. Naturgetreu nachgebildet, in sich ruhend, aber mit wachsam blickenden, übergroßen Augen – es könnte ja eine Mücke vorbeifliegen … Auf dem Rücken trägt sie viele Goldkügelchen. Wahrscheinlich sollen sie die Eiablage andeuten, den Laich, den sie demnächst in langen Fäden an Wasserpflanzen anheften wird. Dieses kleine Naturwunder und Meisterwerk der Goldschmiedekunst überstrahlt die übrigen Kostbarkeiten.
Es bleibt nicht beim possierlichen Froschkönig. Die lange Zeit in sich geschlossene minoische Zivilisation vertraute auf die Natur in ihrer Gesamtheit. Kunst- und Gebrauchsgegenstände zeigen vielfältige Pflanzen- und Tiermotive und zeugen von Beobachtungsgabe und besonderen Fertigkeiten. Vom Stier, dem Kulttier, zu den Vögeln, den Fischen, Schlangen, Wildziegen bis zu den Insekten. Die goldenen Bienen von Malia, ein Anhänger, den französische Archäologen in einer Nekropole fanden. Die Besucher drängen sich davor, um einen Blick auf dieses Kleinod zu erhaschen. Zwei Bienen breiten ihre zarten Flügel aus, berühren sich am Hinterleib und balancieren geschickt einen Honigtropfen. Saugen sie ihn auf? Tragen sie ihn zur Wabe? Wer weiß? An den Flügeln und dem Berührungspunkt beider hängen kleine filigrane Goldscheiben. Sie gleichen dem süßen Tröpfchen. – Das goldene Bienenpaar, am Ende der „Alten Palastzeit“ entstanden, zählt nunmehr zu den Paradestücken des Museums.
Dazu gehören ebenso die Wandmalereien aus den großen Palästen. – Allen voran schreitet der „Lilienprinz“ von Knossos. Ein junger Mann im Lilienfeld, dessen Schöngestalt bei seiner Auffindung nur aus wenigen Teilstücken bestand, die man fantasievoll ergänzte. Aus dem abgewinkelten rechten Arm, einem Bruchstück des linken, einem Teil des Oberkörpers und vom linken Bein Schenkel und Wade hat man den eleganten, sportlichen Jüngling gezaubert. Phönix aus der Asche. Die prächtige Kopfzier aus Straußenfedern und stilisierten Lilien steht ihm gut zu Gesicht. Wer er auch sei, ob Priester, Herrscherfigur oder sieggewohnter Athlet, er bleibt die Idealgestalt eines attraktiven Mannes.
Zwischen den farbenfrohen Fresken macht ein weibliches Wesen auf sich aufmerksam. „Die Pariserin“. Wie der „Lilienprinz“ entdeckte man sie im Palast von Knossos. Ihre Anmut bedurfte keiner Ergänzung. Das ausdrucksstarke, beseelte Auge, von Lidstrichen betont, beherrscht die feinen Gesichtszüge. Vom üppigen dunklen Haar stiehlt sich keck eine Locke in die Stirn. Weißer Teint und der auffällig geschminkte Mund geben der altkretischen Schönen einen Anflug von Koketterie. Obgleich der kultische Knoten, den sie im Nacken trägt, eher eine Priesterin in ihr vermuten lässt. Doch das Eine schließt das Andere nicht aus. Ihr Gewand ist modisch gestaltet, und man ahnt ein wohlproportioniertes Dekolletee. Minoischer Chic, minoischer Charme.
Beim Gang durch die Säle reift der Entschluss, die vorgesehene Fahrt nach Knossos zu Minotaurus und Labyrinth zu vertagen, um am nächsten Tag erneut in diese faszinierende, von grenzenloser Fantasie, Schöpferkraft und handwerklichem Geschick geprägte Welt einzutauchen.