von Erhard Weinholz
Der Alltag in unserer Weltgegend wandelt sich rascher denn je, ständig drängt Neues hinzu, höchst überraschendes mitunter; im Gegenzug ist mancherlei verschwunden, von dem wir nie gedacht hatten, dass es verschwinden könne – wir haben sein Dasein ohne weiteres Nachdenken für selbstverständlich gehalten. Um Verschwundenes geht es auch in den folgenden Beiträgen zu einem imaginären und von jedermann erweiterbaren Lexikon.
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Abendzeitungen: Gab es in der DDR, wo der Boulevard nicht eben blühte, nur zwei, für Halle und Leipzig die AZ und in Berlin die BZ am Abend. Sie wurde ab 13 Uhr verkauft, war also eher ein Nachmittagsjournal. Kurz vor Eins schon sah man Leser des Blattes am Kiosk Ausschau halten, mit Freudenrufen wurde es begrüßt. Beliebt war unter anderem die Rubrik Heute morgen – das Allerneueste aus der Hauptstadt, mit Fotos illustriert: Gewitterstürme rasten hieß es da oder U-Bahnhof wieder in Betrieb. In den Neunzigern wurde aus der BZA der Kurier am Abend, und weil es ein Abwasch war, produzierte man auch gleich einen Früh-Kurier. Der aber verkaufte sich viel besser als die Spätausgabe, und bald darauf wurde Berlins letzte Abendzeitung eingestellt – die Westberliner waren allesamt schon vorher Pleite gegangen.
Dynamo-Moskau-Hosen: Turnhosen, deren Beine bis zum Knie um die Schenkel schlotterten. Sie zu tragen galt als bescheuert. Dynamo hießen die Sportvereine von Polizei und Stasi.
Eilsendung: Die Postsendung wird in der DDR vorrangig befördert (?? – der Autor) und noch am Eingangstag ausgehändigt, heißt es in den Informationen über Gebühren und Leistungen der Deutschen Post aus dem Jahre 1981. Den Sendungsweg konnte man Abstempelungen entnehmen. Zu Kaisers Zeiten bekam Post aus dem Ausland wohl immer einen Ankunftsstempel, und dank diesem schönen Brauch wissen wir, dass eine am 5. August 1900 in Neapel aufgegebene Karte drei Tage darauf in Schirgiswalde bei Dresden eintraf; adressiert war sie an den Stammtisch im Restaurant Zur Post. Heutzutage brauchen solche Auslandssendungen oft zwei bis drei Wochen.
Großkampftag: Begriff aus der nazistischen Kriegsberichterstattung, siehe dazu Klemperers LTI (allerdings hatte schon Wilhelm II. einmal erklärt, bei ihm sei alles groß). Nach ’45 in übertragener Bedeutung gesamtdeutsch weiterverwendet, inzwischen wohl außer Gebrauch. Das im Osten stets verpönte Russlandfeldzug scheint sich dagegen im Westen bis heute gehalten zu haben. Klemperer hatte auch vermutet, der alliterierende Kohlenklau würde bleiben. Aber wer heizt schon noch mit Kohlen? Das Goebbelssche Groschengrab dagegen hat überlebt. Münzfernsprecher nannte man so, die die Münze ohne Gegenleistung einbehielten. Einige DDR-Münzfernsprecher erstatteten allerdings nach Gesprächsende die Münzen zurück. Es war eben nicht alles schlecht …
Natascha-Frisuren: Leicht herabsetzende Bezeichnung für hochtoupierte Frisuren, wie sie insbesondere in den sechziger Jahren üblich waren. Wurden angeblich von Landeiern bevorzugt. Kam die Mode aus dem Osten? Passend dazu: weiße Hackenschuhe.
Ortstarif: Briefe zu versenden kostete im Ortsverkehr die Hälfte, bei Briefen bis zwanzig Gramm also zehn Pfennige. Bei Karten bot man diese Vergünstigung nicht, obwohl gerade sie lange Zeit höchst wichtig waren: Sie ersetzten das Telefon. Wollte man sich am Donnerstag für Sonntag zum Kaffee verabreden, schickte man nicht etwa ein Brieftelegramm, sondern eine Karte.
Pausenzeichen: Zwischen den Rundfunksendungen lagen manchmal minutenlange Pausen; eine kurze Tonfolge zeigte etwa alle zehn Sekunden an, dass der Sender weiter in Betrieb war. Man konnte es auch am magischen Auge erkennen: Das war dann weit geöffnet.
Ritzenschieber: Jemand, der mit einem Schieber die Schienen der Straßenbahn von Fremdkörpern befreite, ein Mythos aus meiner Heimatstadt Brandenburg an der Havel. Als Ritzenschieber zu arbeiten, galt als das Letzte; Schulversagern wurde gedroht, sie würden als solcher enden. Gesehen habe ich nie einen.
Sputnik: russisch, wörtlich übersetzt Mitwegling, also Begleiter, Name des ersten künstlichen Erdsatelliten. Ist Westlern trotz Sputnikschock zumeist unbekannt. Eine Nachbildung findet sich am Berliner Café Moskau in der Karl-Marx-Allee. Sputnik nannte man auch die Züge der Reichsbahnlinie 120, Berlin – Potsdam – Werder/Havel, die Westberlin südlich umfuhren. Bald nach der Maueröffnung verlor die Linie an Bedeutung, der Potsdamer Hauptbahnhof, ein schöner Sechziger-Jahre-Bau, geriet ins Abseits und verödete allmählich. Auf einem Außenbahnsteig fährt wohl hin und wieder noch ein Zug.
Telefonzellen im Postamt: Früher … ja wann war das, dieses Früher? … gehörte das Fernsprechwesen zur Post, in den Postämtern standen Telefonzellen, und Telefonbücher lagen aus. Noch in den Sechzigern meldete wer in der Provinz kein Telefon hatte, und das waren die meisten, ein Ferngespräch zum Beispiel nach Berlin am Postschalter an; war die Leitung freigeschaltet, ging man in die Zelle, wo es nach Staub, Kork und Kunstleder roch.
Telegramm: Eine seit etlichen Jahren nicht mehr angebotene Sendungsart; der Text wurde meist am Schalter per Formular aufgegeben, mit dem Fernschreiber zum Bestimmungsort telegrafiert und dort recht bald von Telegrammboten ausgetragen. Oft für Glückwünsche und Todesnachrichten verwendet; man sah den Boten aber nicht an, was sie eben ins Haus brachten. Sonderformen in der Reihenfolge ihrer Übermittlung: das Katastrophen-, das Staats-, das Blitztelegramm, das aber nicht von Blitzen handelte, sondern für die zehnfache Gebühr blitzschnell abgefertigt wurde. Es hieß auch: Privat kommt vor Katastrophe. An letzter Stelle stand das Brieftelegramm, das zwar telegraphisch übermittelt, aber mit der regulären Post ausgetragen wurde und daher nur fünf Pfennige pro Wort kostete. Das Staatstelegramm durch Twitterbotschaften zu ersetzen gilt bislang noch als kulturlos.
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