von Manfred Orlick
Heinrich Heine bezeichnete sie als „Sturmwind in Weiberkleidern“: die französische Schriftstellerin Schweizer Herkunft Germaine de Staël (1766–1817). Madame de Staël, wie sie in der Literaturgeschichte genannt wird, galt als eine der geistvollsten Frauen ihrer Zeit und war eine wichtige Vermittlerin deutscher Literatur und Philosophie in Frankreich.
Ihr Vater Jacques Necker war einer der reichsten Bankiers von Europa und zeitweilig Finanzminister unter Ludwig XVI. Im Salon ihrer Mutter hatte Germaine schon im Kindesalter Umgang mit den französischen Aufklärern sowie den geistigen Vätern der Revolution. Zwanzigjährig wurde sie mit dem 17 Jahre älteren schwedischen Botschafter in Paris Baron Erik Magnus Stael von Holstein verheiratet, der ihr eine gesellschaftliche Position sicherte, die es ihr erlaubte, einen eigenen Salon zu führen, der bald über Paris hinaus bekannt war. Mit Geist und Charme empfing sie hier bedeutende Persönlichkeiten ihrer Zeit. Ihr Salon wurde zum „Vorzimmer der Revolution“.
Zunächst begrüßte Mme de Staël die Revolution von 1789, als jedoch das Terrorregime der Jakobiner ausbrach, verhalf sie adligen Freunden zur Flucht. Schließlich musste sie selbst vor der radikalen Jakobinerherrschaft auf den elterlichen Landsitz Coppet am Genfer See fliehen. Von Napoleon, den sie anfangs als „den freiheitsliebendsten Franzosen“ bewundert hatte, war sie bald enttäuscht. Sie ging in Opposition zu ihm, denn sie witterte in ihm den kommenden Diktator und Tyrannen.
Ihr neuer Salon in Coppet wurde ebenfalls zu einem intellektuellen Zentrum, in dem die großen Geister der Zeit verkehrten – Lord Byron, Schlegel, Chateaubriand oder Stendhal. Letzterer behauptete sogar, dass sich hier „die Generalstände des europäischen Denkens versammelt“ hätten. Napoleon sah dagegen in Germaine de Staël eine Unruhestifterin und in ihrem „literarischen Salon“ einen Hort der Verschwörung und untersagte ihr im Dezember 1802 jeden Aufenthalt in Paris. Als ihr Aufenthaltsverbot im Oktober 1803 sogar auf das Pariser Umland ausgedehnt wurde, unternahm Germaine de Staël eine halbjährige Reise durch Deutschland – zeitweise begleitet von ihrem Geliebten, dem Schweizer Literaten Benjamin Constant, und zwei ihrer Kinder. Zunächst machte sie in Frankfurt am Main Station, ehe sie dann Mitte Dezember in Weimar eintraf, wo sie ihren Aufenthalt intensiv für Begegnungen und Informationen nutzen wollte. Goethe weilte gerade in Jena und verspürte zunächst wenig Lust, sein Arbeitsprogramm dort zu unterbrechen. So kam es erst an den Weihnachtstagen, als Goethe nach Weimar zurückkehrte, zu einer ersten Begegnung, die für beide Seiten etwas enttäuschend verlief. Sie hatte einen jungen Werther erwartet und sah sich nun einem behäbigen, 54-jährigen Geheimrat gegenüber. Auch Goethe ging trotz aller Bewunderung auf Distanz.
Madame traf auch Wieland, Schiller, die Herzogin Anna Amalia und andere Persönlichkeiten Weimars. Vor allem die Damen der Hofgesellschaft waren von ihr beeindruckt – es wurden Bälle organisiert und der Spielplan des Theaters nach ihren Wünschen geändert. Nach zweieinhalb Monaten verließ Germaine de Staël Weimar und reiste über Leipzig nach Berlin. Die wichtigste Begegnung führte sie hier mit dem Literaturhistoriker und -kritiker August Wilhelm Schlegel zusammen, den ihr Goethe empfohlen hatte. Als Mitte April die Nachricht vom Tod ihres Vaters eintraf, trat sie unverzüglich die Rückreise an. Zu ihrer Reisebegleitung gehörte nun Schlegel, den sie als Mentor für sich selbst sowie als Hauslehrer für ihre Kinder gewonnen hatte. Die vierzehn Jahre dauernde fruchtbare Verbindung mit dem deutschen Gelehrten endete erst mit ihrem Tod.
Im Jahr 1807 begann de Staël dann mit der Niederschrift von „De l’Allemagne“ („Über Deutschland“), wofür sie im Winter 1807/08 bei einer zweiten Deutschlandreise – vorrangig durch Süddeutschland – weitere Informationen sammelte. 1810 war das Buch fertiggestellt, doch die erste Auflage ließ Napoleons Polizeiminister kurz nach Erscheinen einstampfen. Selbst die Druckplatten wurden vernichtet. Das dreibändige Werk konnte erstmals 1813 in England erscheinen, wo die Autorin nun im Exil lebte. Innerhalb von drei Tagen war es vergriffen. Die Franzosen und Deutschen mussten noch ein Jahr warten, ehe es schließlich in Paris und Leipzig (in deutscher Übersetzung) gedruckt wurde. Nach der Abdankung Napoleons im April 1814 konnte Germaine de Staël nach Paris zurückkehren. Während der „Hundert Tage“ Napoleons musste sie jedoch wieder nach Coppet fliehen. Nach letzten Lebensstationen, so auch in Italien, starb Germaine de Staël vor 200 Jahren am 14. Juli 1817 in Paris an den Folgen eines Schlaganfalls.
Mit „De l’Allemagne“ prägte Germaine de Staël für lange Zeit das Deutschlandbild nicht nur der Franzosen sondern der ganzen Welt. Sowohl das Bild der Deutschen als „Stubenhocker“ als auch der Titel „Volk der dichtenden und denkenden Menschen“ werden ihr zugeschrieben. Im ersten Band, der noch von vielen Vorurteilen geprägt war, widmete sie sich dem Nachbarland allgemein und den „Sitten der Deutschen“. Über deren Charakter schreibt sie: „Die Deutschen sind mit wenigen Ausnahmen nicht fähig, in Angelegenheiten, die Biegsamkeit und Gewandtheit erfordern, mit Erfolg aufzutreten. Alles beunruhigt sie, alles setzt sie in Verlegenheit.“ Der gallischen Leichtigkeit stellte sie die germanische Tiefe gegenüber. „Das deutsche Volk zeichnet eine Langsamkeit und Trägheit aus“ … nichts wird übereilt, es findet überall Hindernisse, und den Ausruf: ‚Das ist unmöglich!‘ hört man in Deutschland hundertmal öfter als in Frankreich.“ (Ein Schelm, wer zu dieser Einschätzung heutige Parallelen zieht?)
Im zweiten Band beleuchtete de Staël ausführlich die deutsche Literatur und Kunst. In zahlreichen Kapiteln beschäftigte sie sich mit den Hauptepochen der deutschen Literatur und ihren Vertretern (so Wieland, Klopstock, Lessing, Goethe und Schiller). Ihr besonderes Interesse galt dabei der dramatischen Kunst. Über die deutsche Literatur fand sie zumeist lobende Worte und sparte dabei nicht mit Seitenhieben gegen ihre Landsleute: „In Frankreich liest man ein Werk beinahe nur, um darüber zu reden. In Deutschland dagegen […] verlangt man, dass einem das Werk selbst Gesellschaft leiste.“
Im abschließenden Teil setzte sich de Staël dann mit der Philosophie, Moral sowie der Religion der Deutschen auseinander. Hier kam sie natürlich auch auf die Reformation („Wenn sich einmal eine Idee der deutschen Köpfe bemächtigt hat, so ehrt sie die Geduld und die Beharrlichkeit, mit der sie diese festhalten“) und Martin Luther („Luther ist derjenige, dessen Charakter am deutschesten war. Seine Festigkeit hatte etwas Rauhes, seine Überzeugung ging bis zur Halsstarrigkeit“) zu sprechen.
Es ging de Staël dabei aber weniger um Deutschland als um Frankreich: Sie wollte der Grande Nation, die sich gerade von einem Usurpator korrumpieren ließ und ihre kulturelle und intellektuelle Führungsrolle in Europa eingebüßt hatte, einen Spiegel vorhalten. „De l’Allemagne“ wurde für Deutschland und gegen Napoleon geschrieben und sie ging damit in die Literaturgeschichte ein.
Ihr Werk umfasste allerdings mehr, 17 Bände zählte immerhin eine erste Gesamtausgabe. Da wären an erster Stelle ihre beiden emanzipatorischen Romane „Delphine“ (1802) und „Corinne ou l’Italie“ (1807) zu nennen, in denen sie ihre Beziehung zu Benjamin Constant verarbeitete und an den Moralvorstellungen der damaligen Zeit rüttelte. Beide wurden zu Bestsellern – vor allem „Delphine“ machte sie in den literarischen Kreisen Europas bekannt – in Deutschland bereits vor Antritt ihrer Reise. In „Der Frau von Staël Verbannung aus Frankreich“ (1813) und in „Betrachtungen der vornehmsten Begebenheiten der Französischen Revolution. Ein nachgelassenes Werk der Frau von Staël“ (sechs Bände, 1818) verarbeitete sie neben persönlichen Erfahrungen ihre Sicht auf die politischen Umstürze ihrer Zeit.
Schlagwörter: Deutschland, Frankreich, Germaine de Staël, Manfred Orlick