von Arndt Peltner, Oakland
„Der wilde, wilde Westen fängt gleich hinter Hamburg an…“ So sangen einst die Hamburger Truck Stop über den Mythos von den unendlichen Weiten und der Freiheit des Westens. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Zu Anfang, als die Vereinigten Staaten gegründet waren, erstreckten sie sich entlang der Ostküste – grob gesagt: östlich des Mississippi, der sich von Nord nach Süd durch den Kontinent zieht, bis er in den Golf von Mexiko mündet. Westlich des Mississippi war weites, offenes Land, Prärien, aufsteigend in die Bergwelt der Rocky Mountains. Für Auswanderer aus dem engen Europa waren das unendliche Weiten. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lebten westlich des Mississippi gerade mal 700.000 Menschen. Lange Zeit wurde dieses Gebiet auf den Landkarten als Wüste dargestellt, aber es war ein Meer aus Gras. An manchen Stellen wuchs es so hoch, dass man sich auf den Rücken eines Pferdes stellen musste, um darüber hinweg zu blicken. Indianer und gewaltige Büffelherden zogen durch die Prärie.
Der Westen war jedoch auch „Cowboy Land“. Jene harten Kerle, die im südlichen Bereich der Plains riesige Viehherden hüteten, um sie dann, einmal im Jahr, nach Chicago zum Verkauf zu treiben. Nichts konnte sie aufhalten, wie Joanne Liu, Autorin des Buches „Barbed Wire“ erklärt: „Was man über den amerikanischen Westen wissen sollte: Es gab dieses ungeschriebene Gesetz des weiten Landes. Es besagte, dass Cowboys das Vieh auf jedes Weideland und zu jeder Wasserstelle bringen konnten.“
Doch damit war schon bald Schluss. Einer der Gründe war der anhaltende Konflikt mit den Ureinwohnern, die weite Teile des Landes westlich des Mississippi kontrollierten. In den 1850er Jahren eskalierte die Situation und kam in den 1860er und 1870er Jahren zur offenen Konfrontation. Genau zu der Zeit gab es eine heftige Debatte in den Vereinigten Staaten, wie man eine Lösung für die wirtschaftliche Nutzung der Ebenen im Westen finden konnte. Und die hieß: Einzäunung.
Die amerikanische Regierung bot Siedlern im sogenannten „Homestead Act“ deshalb an, riesige Ländereien kostenlos zu erhalten, wenn sie denn fünf Jahre lang das Land bestellten und beackerten. Ein Zaun musste her, um die Landwirtschaft vor wilden Tieren und den umherziehenden Viehherden zu schützen, wie Brian DeLay, Geschichtsprofessor an der University of California in Berkeley, es schildert: „Der offene Westen hatte nicht die Materialien für Zäune, die es im Osten gab. Im Nordosten nutzte man Steinzäune, die man noch heute in New England sehen kann. Und im Rest der östlichen USA wurde Holz für Lattenzäune genutzt.“
Die Materialien in den Westen zu transportieren war zu teuer, der Versuch, mit Heckenanpflanzungen eine Begrenzung der Ländereien zu erreichen, dauerte zu lange. Deshalb gab es eine „richtige Jagd nach einer Lösung für das Zaunproblem im amerikanischen Westen“, wie Joanne Liu es beschreibt. Schließlich hatte Joseph Glidden die richtige Idee und meldete 1873 sein Patent für den Stacheldraht an. Damit revolutionierte er die industriell-landwirtschaftliche Wirtschaft zum Ende des 19. Jahrhunderts, er wurde zu einem der reichsten Männer der USA. Schon zwei Jahre nachdem Glidden seine Erfindung der Öffentlichkeit präsentiert hatte, produzierte er mit seiner „Barb Fence Company“ in DeKalb, Illinois, nahezu 1500 Tonnen Stacheldraht. Die Nachfrage, gerade im Westen der USA, war riesig. „Man hört eine Menge über die Bedeutung der Eisenbahn, der Windmühlen, aber ich denke, dem Stacheldraht wird dabei nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt“, so sieht die Autorin Liu die Bedeutung des Stacheldrahtes.
„Das ist der beste Zaun der Welt. Leicht wie Luft. Stärker als Whisky. Billiger als Schießpulver. Ganz aus Stahl und viele Kilometer lang. Das Vieh ist noch nicht geboren, das ihn überwinden kann. Meine Herren, nehmen Sie die Herausforderung an und bringen Sie ihre Rinder.“ – John Warne Gates, Stacheldrahtverkäufer in Texas in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts.
Doch nicht jeder war mit dem Ausrollen des Stacheldrahtes einverstanden. Es kam zu gewalttätigen Übergriffen, nachts durchschnitten Cowboys die Zäune der Farmer, um freien Zugang zu Weideflächen und Wasserstellen zu bekommen. Es kam zum sogenannten „Fence Cutting War“. Doch aufhalten, so Professor Brian DeLay, konnten die Cowboys die Entwicklung nicht mehr. „Die Ironie dabei ist, dass die Viehbesitzer sich anpassten und erkannten, dass es damit durchaus riesige Vorteile gab. Denn wenn man seine Viehherde selbst einzäunt, kann man etwas tun, was bislang nicht möglich war: die Zucht kontrollieren.“ Zudem verringerten sich die Arbeitskosten, denn die Umzäunung machte viele Cowboys überflüssig.
Der Stacheldraht hatte nicht nur buchstäblich einschneidende Wirkungen für die Cowboys und die traditionellen Besitzer der Viehherden. Er hatte auch tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben der indianischen Stämme im Westen der USA. Ihr Lebensraum wurde mehr und mehr verringert. In seinem 1972 veröffentlichten Buch „De l’ethnocide“ schreibt Roger Renaud: „So hatten die Indianer vor der Ankunft der Weißen nicht geahnt, dass die Erde einer bestimmten Person gehören könnte, und nicht das Gemeingut all derer sei, die auf ihr leben. Der Indianerstamm bewohnte ein Gebiet, das sich im Einklang mit seinen Bedürfnissen und der Größe der Bevölkerung befand, ohne dass die Rede von Grenzen oder Absperrungen gewesen wäre.“ Die Verbreitung des Stacheldrahts war der Nagel im Sarg der Indianer, meint Joanne Liu.
Anfang des 19. Jahrhunderts gab es nahezu 65 Millionen Büffel in den Weiten des amerikanischen Westens. Am Ende des Jahrhunderts waren gerade noch ein paar Tausend übrig. Die Jagd des weißen Mannes und die Abriegelung von Weideflächen durch das „Devil’s Rope“, das Teufelsseil, wie man den Stacheldraht nannte, vernichtete fast die gesamte Population.
Ungeachtet der brutalen Folgen war die Erfolgsgeschichte des Stacheldrahts nicht aufzuhalten, sie veränderte die Landschaft und die Lebensweise in Nordamerika – ein historischer Prozess, der sich auch auf die amerikanische Psyche auswirkte, auf die Mentalität, die eigene Lebenswelt zu ordnen, die privaten Lebensräume abzugrenzen.
Professor DeLay sieht es so: „Der Stacheldraht ist zweifellos ein bedeutendes Symbol für Amerikaner. Es ist auch überall präsent. Der Stacheldraht beschreibt Privatbesitz, er beschreibt, was zugänglich ist, er beschreibt Macht, wer sie hat und wer nicht, wer willkommen ist und wer nicht. Der Stacheldraht stellt fest, dies ist mein Schloss, sei vorsichtig, du bist nicht willkommen. Es gibt da keine Zweideutigkeit, das hier ist meins, und du kannst nur rein, wenn ich das will. Und wenn du dich nicht daran hältst, hat das Konsequenzen.“
Der wilde, wilde Westen, Cowboy-Country, der Mythos von der unendlichen Weite Amerikas verendete am Stacheldraht der sich fortan durch die Prärie zog. Aus dem weiten Land der unbegrenzten Möglichkeiten wurde ein Land hinter Stacheldrähten und Abzäunungen. Wobei die Abgrenzungen nicht offen immer sichtbar waren und sind.
Dr. Anthony Iton ist der „Senior Vice President of Healthy Communities“ der California Endowment. Er hat sich intensiv mit dem Phänomen des „Redlining“ beschäftigt, einer imaginären Stacheldrahtziehung in den amerikanischen Städten und Gemeinden. Die Regierung in Washington hatte dabei durch den sogenannten National Housing Act von 1934 Nachbarschaften in A, B, C und D unterteilt. A war eine rein weiße Nachbarschaft, erstrebenswert für die Mittelklasse. Schon eine farbige Familie in der Gegend drückte den Grad von A auf B. Und das hatte dramatische Folgen, denn nicht nur, dass eine A-Straße „weiß“ sein sollte, also ausschließlich von Weißen bewohnt – die Stadtteile unterhalb von A wurden auch gezielt benachteiligt und zurück gelassen, erklärt Anthony Iton: „Redlining war wohl die am meisten durchgeführte Praxis in den Vereinigten Staaten. Afro-Amerikaner wurden somit in Stadtteile gedrängt, in denen es schwieriger war, Hypotheken zu bekommen, Versicherungen zu kriegen, wo weniger geschäftliche Investitionen getätigt wurden.“
Versicherungsunternehmen hatten mit diesem Ranking in den späten 1920er Jahren begonnen; 1934, als Franklin D. Roosevelt US-Präsident war, wurde die Praxis von der Bundesregierung festgeschrieben, bis in die 1970er Jahre blieb diese Form der urbanen Diskriminierung gängige Praxis. Mit Folgen bis heute.
Sheila Savannah arbeitet für die gemeinnützige Organisation Prevention Institute im Bereich „Social Justice“. Sie überlegt nicht lange auf die Frage, ob Redlining als moderner Stacheldraht gesehen werden kann: „Es ist wie Stacheldraht. Diese Praxis ist heute fast überall illegal. Doch die historische Bedeutung ist noch gegenwärtig. Wenn ich mir nur einige dieser Redlining-Karten ansehe, dann sieht man deutlich, wie sie Gang-Territorien geprägt haben, wie Schul-Rivalitäten entstanden sind, wie Autobahnen geführt wurden. Das Redlining wird nicht mehr benutzt, aber diese lange Geschichte durch viele verschiedene Bereiche hat einen dauerhaften Stacheldraht gebildet, den man nur entfernen kann, wenn man ihn bewusst entfernt.“
Es waren und sind nicht nur die Grundstückspreise, die eine weiße Nachbarschaft von einer schwarzen unterscheiden. Sie sind vielmehr eine Reflexion der Rahmenbedingungen in den betroffenen Stadtteilen, die einst mit einem roten Stift markiert wurden: fehlende Parks, Supermärkte, keine Fahrrad- und Fußgängerwege. Sogar grundsätzliche Infrastrukturprojekte wie Bürgersteige sind verwahrlost. Alles hängt davon ab, ob Stadtplaner einen Wert dafür in den betroffenen Nachbarschaften erkennen.
Die virtuelle Grenzziehung ist Teil des Lebens in allen amerikanischen Großstädten geworden. Auch ich kenne das nur zu gut. Freunde, die mich in Oakland besuchen, fragen, wo sie in der Stadt hingehen können und wo sie besser einen Bogen drum machen sollten. Meine Antwort ist immer: „Don’t go to East Oakland.“
Für Sheila Savannah ist das ein typisches Verhalten: „Wenn du East Oakland deinen Besuchern beschreibst, dann als gefährlich. Aber diese Information bekommst du aus den Medien, das ist, was du im Fernsehen siehst. Was wir erwarten ist das, was wir hören, daraus entsteht das Grundbild dieser Stadtteile.“
Wenn man sich die Entwicklung der USA aus diesem Blickwinkel anschaut, steht das Bild vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten in einem harten Kontrast zur Alltagswirklichkeit – mit einem für deutsche Verhältnisse befremdlichen Hang zur Grenzziehung und physischen Abgrenzung, und die wiederum bedeutete praktisch eine staatlich geförderte Begrenzung von Lebensmöglichkeiten für erhebliche Teile der Bevölkerung. Denn Redlining beförderte die Ghettoisierung in den amerikanischen Großstädten und traf vor allem die Afro-Amerikaner. Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Hilfe der GI Bill, einer Fördermaßnahme für rückkehrende Soldaten, zogen viele Weiße in die Vorstädte. Damit wurde die Rassentrennung noch verdeutlicht, wie Anthony Iton schildert: „Die Vorstädte wurden zum Inbegriff des amerikanischen Lebens. Die Menschen verließen die Innenstädte, um draußen zu wohnen, mit ihrem weißen Zaun, dem kleinen Garten, dem Einfamilienhaus. Zurück ließen sie die Afro-Amerikaner.“
Amerika ist noch immer ein Land voll offensichtlicher und imaginärer Grenzen. „Gated Communities“ gibt es überall, das sichere Leben hinter hohen Zäunen und unter dem wachsamen Auge von Kameras und Sicherheitspersonal. Durch das Redlining wurden über Jahrzehnte unsichtbare Grenzen in den Städten gezogen, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind, jedoch noch immer dramatische Auswirkungen auf das Leben in den USA haben. Diese unsichtbare Grenzziehung bestimmt nach wie vor persönliche Entwicklungen und Lebensläufe, wie Sheila Savannah vom Prevention Institute erklärt: „Genau wie beim Stacheldraht – wenn man ihn überwindet, bekommt man Narben. Man schneidet sich, man verletzt sich. Es ist nicht für jeden einfach, den Stacheldraht zu überwinden, deshalb wissen viele, es ist gefährlich, es zu tun. Nicht jeder kann es sich leisten, woanders zu leben.“
150 Jahre nach dem Eroberungszug des Stacheldrahtes sind die USA ein Land, das durchzogen ist von einem Geflecht an Grenzen. Der Mythos des weiten Westens besteht nach wie vor, doch er ist nicht mehr als das – ein Mythos. Wer durch die USA fährt, sieht „Devil’s Rope“ links und rechts der endlosen Highways. Das Auge nimmt den Stacheldraht kaum wahr, der Blick geht bis weit zum Horizont, man schwärmt von der Weite des Westens. Und doch, der Zaun macht deutlich, bis hierher und nicht weiter. Der Stacheldraht, diese Erfindung des amerikanischen Farmers Joseph Glidden, wurde durchaus zu einem Symbol des amerikanischen Lebens. Grenzziehung als Grundmuster des Lebens, das über den sichtbaren Alltag hinaus tief eingedrungen ist in die amerikanische Mentalität.
Grenzziehung, die Realität ist, aber in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird. Obwohl das Redlining nie ein Geheimnis war und es über Jahrzehnte in allen Städten und Gemeinden praktiziert wurde, wissen nur die wenigsten Amerikaner mit diesem Begriff etwas anzufangen. Es betrifft sie nicht, auch das ist ein Ergebnis dieser mentalen Grenzziehung. „Ich glaube, das ist ein Aspekt in der amerikanischen Psyche“, sagt Iton. „Man hat das auch deutlich bei der letzten Präsidentschaftswahl gesehen. Man schaut nostalgisch in die Vergangenheit und spricht davon, wie wunderbar die Vergangenheit war und, dass man da wieder hin möchte. Und man blickt mit Angst und Sorgen in die Zukunft. Dieser Präsident ist auf die Bühne getreten und hat seinen Wahlkampf damit geführt, eine Gruppe von Amerikanern als Vergewaltiger und Kriminelle zu bezeichnen. Das war beabsichtigt, damit sollte eine Bedrohung entstehen, die im Unterbewusstsein Angst bei seinen Wählern schafft.“
Die USA heute sind ein gespaltenes Land. Jene, die nun lautstark „Make America Great Again“ rufen, denken dabei an ein Land voller realer und mentaler Zäune, Grenzen und Mauern. Es ist die Verherrlichung einer Gesellschaft, in der die Trennung der Menschen der gelebte und gefeierte Alltag war.
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