20. Jahrgang | Nummer 13 | 19. Juni 2017

Von Rechts wegen

von Renate Hoffmann

Nach Kreta. Insel der Götter, Halbgötter, Heroen und legendären Könige. Von Iraklion nach dem Süden. Über das gebirgige Land und auf kurvenreicher Strecke hinunter in die weite fruchtbare Messara-Ebene. Ein großer Garten, in dem Wein, Oliven, Gemüse und Obst unter dem Schutz der Göttin Demeter gedeihen. Zur Ruinenstadt Gortys (auch Gortyn). Sie gilt als eine der bedeutendsten antiken Städte Kretas, war römische Inselhauptstadt und besitzt den ältesten schriftlichen Gesetzestext Europas. „Die große Inschrift von Gortys“.
Vormals eine der fünf mächtigsten Städte Kretas, verlegte Gortys seine Gründung in die sogenannte minoische Zeit und erlebte den ersten großen Aufschwung im 6./5. Jahrhundert v. Chr. Zum Stadtstaat aufgestiegen, vereinnahmte sie die gesamte Messara-Ebene und wuchs zu einer Stadt mit geschätzten 40.000 Einwohnern und expandierte weiter. Homer erwähnte sie in der Ilias als das „festummauerte Gortys“.
Durch kluge politische Führung erhielten die Bewohner eine beispielhafte Rechtsgrundlage, die weit über die Zeit hinauswies. Die Gesetze ließ man in Stein meißeln und öffentlich aufstellen. Die Tafeln überstanden Erdbeben, alle Umbauten und Versetzungen in andere Gebäude. Nach der Okkupation Kretas durch die Römer fanden sie ihren endgültigen Platz im Odeion (immerhin achteten die Eroberer in diesem Falle fremdes Kulturgut). Gortys blieb Inselhauptstadt der römischen Provinz Kreta und befand sich bis zum Jahr 823 n. Chr. in guter wirtschaftlicher Lage. Danach drangen die Araber ein, plünderten und zerstörten die Stadt.
Die Hauptstraße führt mitten durch das Ruinenfeld. Man ahnt die gewesene Größe der antiken Anlage. Uralte Olivenbäume und wilder Mohn säumen den Weg zum mächtigen Bau der Titus-Basilika – oder zu dem, was von ihr übrig blieb. Der Apostel Paulus soll auf dem Weg nach Rom durch Gortys gezogen sein und hier seinen Mitstreiter Titus als ersten kretischen Bischof eingesetzt haben.
Das römische Odeion, nunmehr Bewahrort der „Großen Inschrift von Gortys“, liegt zwischen den Hügeln und ist in bewährter klassischer Manier erbaut: Der Zuschauerraum mit den ansteigenden Rängen, das ehemalige Bühnenhaus und die Orchestra. Ihren Boden bedecken schwarz-weiße Marmorplatten. Sie galt als Aufführungsstätte für Lustbarkeiten jeglicher Art und die hohe Theaterkunst; vermutlich wohl auch als Versammlungsort, um wichtige Entscheidungen zum Wohle der Stadt zu treffen. – Durch die Sitzreihen zieht gemächlich eine Schafherde und säubert die Stufen vom Wildwuchs.
Im umlaufenden Portikus, durch einen Überbau geschützt, sind die zwölf, ursprünglich auf zwanzig geschätzten Gesetzestafeln in die Wand eingefügt. Die Schriftzeichen überziehen wie feine Zierleisten raumfüllend Quader um Quader. Obwohl unsereins sie nicht enträtseln kann, steht man in Ehrfurcht vor diesem sozial betonten juristischen Werk. – Die Entschlüsselung gestaltete sich schwierig, doch sie gelang. An einem schattigen Platz im Odeion lese ich nach.
Die Inschrift leitet sich aus dem Altgriechischen ab, beziehungsweise folgt einem dorischen Dialekt. Die Zeilen wandern von rechts nach links, kehren um und führen von links nach rechts – und in dieser Weise fortfahrend. Eine Aufzeichnung in Serpentinen. – Die Kolumnen befassen sich im Wesentlichen mit dem Zivilrecht. Unter anderem geben sie detaillierte Regelungen zu folgenden Punkten:
Festlegungen im Prozessfall: „Wenn jemand einen Prozess gegen einen Freien oder einen Sklaven anstrengen will, soll er ihn nicht vor dem Rechtsfall ergreifen.“ Das Gesetz bestraft denjenigen, der einen Sklaven oder eine Sklavin beleidigt! – Ehescheidung, Tod und Vermögensfragen: „Wenn ein Ehepaar sich scheidet, soll die Frau ihr Recht auf ihr Vermögen behalten, mit dem sie in die Ehe kam … Wenn ein (Ehe-) Mann stirbt, kann seine Frau, wenn sie es will, wieder heiraten, wobei sie ihr Vermögen behält.“
Rechtlich definiert und geklärt sind auch: Der Rechtsstand einer Sklavin nach Auflösung ihrer Ehe; Verantwortung für die Schulden eines Verstorbenen; Anweisung für den Richter über die Beweisführung. – Das Strafmaß fällt im Einzelfall relativ mild aus und beläuft sich zumeist auf Geldbußen. Die Todesstrafe ist nicht verzeichnet. Frauen verfügen über besondere Rechte und eine gewisse Eigenständigkeit. Respekt. – Diese Rechtsprechung sei so genial, sagten die Kreter, dass sie nur von Zeus selbst gegeben sein könne. Das ist so abwegig nicht. Denn der Göttervater hinterließ in Gortyn seine Spuren.
Unweit vom Odeion wächst eine immergrüne Platane. Platanus orientalis cretica, botanische Rarität eines Ewigkeitsbaums mit mythischer Vergangenheit. In seinen Schatten trug Zeus in Stiergestalt die phönizische Königstochter Europa. Und hier nun … jedenfalls gebar Europa danach den Minos. Späterhin schenkte Poseidon dem König Minos einen Stier zur Opferung. Minos opferte jedoch ein anderes Tier aus seiner Herde. Poseidon zürnte. Er schlug Pasiphae, die Königin, mit sodomistischen Gefühlen zu seinem edlen Stier, der ja noch lebte … und das Ungeheuer Minotaurus wurde geboren.
Ich gehe zum heiligen Platanenbaum und warte neugierig, was geschehen wird. Aber nicht die Göttergesellschaft findet sich ein, sondern eine lautstarke Touristengruppe. Vater Zeus, bitte steh mir bei!