20. Jahrgang | Nummer 14 | 3. Juli 2017

Flanieren an der Seine – Jean-Baptiste Clément und Eugène Pottier, Sänger der Commune

von Gertraude Clemenz-Kirsch

Beim Schlendern über den Cimetière du Père-Lachaise, den größten der Pariser Friedhöfe, entdeckt man bald die Mauer, an der die letzen Kommunarden erschossen wurden. Auf dem Friedhof hatten sie sich verstecken wollen. Gegenüber der Mauer befindet sich das reizvolle Grab des Chansonniers Jean Baptiste Clément.
Welch hoffnungsvolle Wochen damals! Spontan hatte sich am 18. März 1871 die Commune de Paris gegründet, die sozialistische Ideale verwirklichen wollte. Nur eine sehr kurze Zeit sollte den Kommunarden bis zum bitteren Ende ihrer Regierung am 28. Mai desselben Jahres bleiben.
Da schrieb Jean-Baptiste Clément, der 1836 geborene Sohn eines wohlhabenden Müllers, schon längst keine Romanzenchansons mehr. Nachdem er sich als Jugendlicher in allerhand Metiers versucht hatte, fühlte er sich zum Dichten berufen. Er schrieb Verse über die Natur und die Liebe, die in den Cafés gesungen wurden, und hielt sich damit über Wasser. Seit 1868 aber, im Umfeld der politischen Ereignisse, wurde er zum Republikaner und oppositionellen Journalisten. Da war er 35 Jahre alt. Was hatte diese radikalen Wandlung in Clément hervorgerufen:
Mit der Kapitulation Napoleons III. am 2. September 1870 war der Deutsch-Französische Krieg beendet worden, am 4. September rief man die Republik aus. Preußen stand der Weg in die französische Hauptstadt offen, den ihr nach dem Sieg von Sedan kein feindliches Heer mehr verwehren konnte. Mit einem Regen von 12.000 Granaten deckten die preußischen Truppen Paris ein, 1400 Häuser wurden zerstört. Die Situation der Einwohner war grauenvoll. Vor allem war es der Hunger, der sie zusätzlich zermürbte. Rattenfleisch oder wilde, selbst ausgehungerte Katzen waren nicht selten die Tagesration. In Les Nouvelles las man folgenden Menüvorschlag: „Hundesuppe mit Hirse, Hundeleberspieß à la Maître d’hôtel, Katzenrücken in Mayonnaisensauce oder Katzenragout mit Champignons.“ Und der Schreiber fuhr fort: „Ratten, die wegen ihres Geschmackes nach Schweinefleisch besonders begehrt waren, wurden auf dem Rattenmarkt vor dem Rathaus für 15 Sous das Stück feilgeboten. Innerhalb von drei Monaten landen 25.523 Ratten im Kochtopf. In einer Metzgerei auf dem Boulevard de Rochechouart wurden Raben zu 100 Sous und Spatzen zu 1,25 Francs verkauft.“
Bismarck erreichte sein Ziel: Frankreich kapitulierte, und der Waffenstillstand wurde am 28. Januar 1871 unterzeichnet. Zehn Tage zuvor hatte man – ein Gipfel an Siegerhochmut und Geschmacklosigkeit – den preußischen König Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles zum Kaiser gekrönt. Und am 10. März war die Regierung nach Versailles gezogen.
Das Pariser Volk fühlte sich gedemütigt und war fassungslos, aber nicht handlungsunfähig. Die Streitkräfte der Nationalgarde griffen zu den Waffen, man errichtete eilig Barrikaden, und am 28. März rief der Bürgermeister von Belleville im Namen des Volkes die Commune aus.
Trennung von Staat und Kirche, Abschaffung des Militärs, des Beamtentums, der Ausbeuter, der Börsenspekulation, der Monopole, der Privilegierten waren erklärtes Programm. Weiter beschlagnahmte man die Kirchengüter und beschränkte die tägliche Arbeitszeit auf zehn Stunden. Vor allem aber wurden die allgemeine Wehrpflicht und das stehende Heer abgeschafft. Das Volk sollte im Falle eines Angriffs selbst entscheiden.
Während dieser Monate wurde im Frankfurter „Gasthof zum Schwan“ der Friedensvertrag zwischen Deutschland und Frankreich verhandelt und am 10. Mai 1871 unterzeichnet: Frankreich musste fünf Milliarden Francs zahlen und Elsass-Lothringen an das deutsche Reich abtreten.
Die Generäle in Versailles um den damaligen „Chef der Exekutive“, Louis Adolphe Thiers, ließen sich durch ihre Soldaten auf das Genaueste über die Handlungen der Kommunarden informieren. Und als am 21. Mai mit der Aufforderung „Nur herein, es ist niemand da!“ signalisiert wurde, dass die Barrikaden unbewacht waren, schlug Versailles zu. Auf einen Kampf waren die Arbeiter nicht vorbereitet, doch panikartig stürzen sie aus ihren Wohnungen herbei. Ladenbesitzer und Jugendliche, alles was auf der Straße war, kam, um Widerstand gegen den Thiers und seine Armee zu leisten. Diesem grausamen Kampf aber war das einfache und unbewaffnete Volk nicht gewachsen.
Die Bahnhöfe Batignolles, Saint-Lazare und Montmartre waren bereits von der Regierungstruppe eingenommen, da begannen die Soldaten schon mit der Erschießung der Gefangenen. In ihrer verzweifelten Wut zündeten die fliehenden Kommunarden die wichtigsten Gebäude der Stadt an – das Rathaus, den Rechnungshof, das Verwaltungsgericht und den Tuilerien-Palast – was zur grausamen Folge hatte, dass die Versailler alle Personen mit schwarzen Händen erbarmungslos töteten und in ein Massengrab warfen. Allein in der Rue de Saint-Jacques wurden vierzig Personen ohne Urteil hingerichtet. Bis zu den Gräbern vom Cimetière du Père-Lachaise tobte das Gemetzel.
Von Paris blieb nichts als ein Trümmerhaufen. ´Nur der Louvre und La Concorde blieben glücklicherweise unversehrt. Die Rue de Rivoli mit ihren berühmten Arkadengängen glich zeitgenössischem Urteil zufolge nur noch „einem Steinbruch mit gusseisernen Balkonen“.
Doch die Stadt hat alles getan, um wieder zu gesunden. Zur Weltausstellung 1878 konnte sie nach sieben Jahren der Trauer und Verzweiflung ihre Genesung feiern.
Während der Commune hatte der Dichter Jean-Baptiste Clément die Funktion des Bürgermeisters von Montmartre übernommen. Dorthin hatte man die Kanonen der Armee gebracht, die die Nationalgardisten nicht in die Gewalt von Thiers geben wollten. Clément verfasste längst neue Texte, die er „Chansons de l’avenir“ nannte. Mit diesen „Zukunftsliedern“ wollte er den Menschen die tatsächlichen Verhältnisse verdeutlichen und ihnen sagen, dass auch sie durch ihre Arbeit ein Recht auf Wohlstand haben.
Monatelang hatte er für diese Texte im Gefängnis schmachten müssen. Nach der blutigen Niederschlagung der Commune floh er nach London, wo er sich als Französischlehrer durchschlagen konnte. Erst eine Amnestie im Jahre 1880 ermöglichte ihm die Rückkehr nach Paris. Sein großes Chanson, Le Temps des Cerises, die Zeit der Kirschen, hat uns Clément hinterlassen:

Der tapferen Bürgerin Louise,
Krankenschwester in der Rue-Fontaine-au-Roi,
am Sonntag, dem 28. Mai 1871

J’aimerai toujours le temps des cerises:
C’est de ce temps-là que je garde au cœur
Une plaie ouverte,
Et dame Fortune, en m’étant offerte,
Ne saura jamais calmer ma douleur.
J’aimerai toujours le temps des cerises
Et le souvenir que je garde au cœur.

Immer werde ich sie lieben, die Kirschenzeit:
Aus dieser Zeit trage ich im Herzen
Eine offene Wunde,
Und Frau Fortuna, die sich mir anbietet,
Kann niemals meinen Schmerz lindern.
Immer werde ich sie lieben, die Kirschenzeit,
Und auch die Erinnerung an sie, die im Herzen ich trage.

Übersetzung: Dietmar Rieger

Ein Liebeslied, das zum Volkslied, zur Hymne der Kommunarden und der Arbeiterbewegung wurde. Das Thema des Liebesleids und der bittersüßen Sehnsucht nach der Zeit des Liebesglücks wurde auf den blutigen Mai 1871 bezogen. Den letzten Weg von Jean-Baptiste Clément zum Père-Lachaise im Jahre 1903 begleiteten 3000 Trauergäste.
Die Erinnerung an Clément wird wach gehalten. Auf dem Montmartre-Hügel ist ein Plätzchen nach ihm benannt, auf das man einen Kirschbaum gepflanzt hat, und unweit vom Merle Moqueur gibt es ein Bistro, wo man zu den Klängen eines anderen Revolutionsliedes von Clément – „Communard“ – einen gleichnamigen Drink serviert: ein Glas Rotwein mit einem Schuss Cassis.“
Ein anderer Aktivist der Commune war Eugène Pottier. Auch er musste nach dem Scheitern des Aufstandes so schnell wie möglich aus dem Lande fliehen. Er hatte das an die deutschen Sozialisten gerichtete Manifest vom 30. Juli 1870, das zur Opposition gegen den Krieg aufrief, unterschrieben und kämpfte trotz seiner angegriffenen Gesundheit in seiner Funktion als Bürgermeister des 2. Arrondissements und als Mitglied der Commune für deren Ideale. Auch er suchte Asyl in England und in den Vereinigten Staaten – auf dem Weg dorthin entstand sein großes Vermächtnis an das Proletariat und die Arbeiterbewegung, Die Internationale, – und kehrte ebenfalls aufgrund der Amnestie von 1880 nach Paris zurück.
Zum internationalen Hymnus wurde Die Internationale in der Vertonung von Pierre Degeyter, einem Dirigenten des Arbeitergesangsvereins von Lille, die jedoch erst nach dem Tode Pottiers, er starb 1887, erfolgte.
Pottier, geboren worden war er 1816, hatte sich mühsam und selbständig durch das Auswendiglernen von Chansons die Fähigkeit des Lesens und Schreibens angeeignet. Es waren die Chansons von Pierre-Jean de Béranger, die ihm die Regeln der Verslehre erschlossen. Und diesem hat er später seine erste eigene Chanson-Sammlung gewidmet.