von Erhard Weinholz
Nirgendwo mehr Vorfreude, auf keinem Fernbahnhof, in keinem Schrankenwärterhäuschen; unbemerkt ist er herangenaht, doch soll er wenigstens nicht unbemerkt entschwinden, der zweite Junisonntag in seiner einst amtlichen Eigenschaft als Tag des Eisenbahners. Vielleicht, dass irgendwo noch ein Kollege zum anderen sagt: Tag des Eisenbahners, gab’s da nicht ganz nette Prämien früher? Worauf der andere erwidert: Früher, früher … früher hatten wir ja auch’n Kaiser! Ganz richtig: einen Kaiser, ein Kaiserreich und eine Bahn, die Deutsche Reichsbahn hieß. Aus Gründen, die ich hier nicht erörtern will, hieß sie in der DDR noch immer so.
Viel Schimpf hat diese Reichsbahn in jenen Jahren hinnehmen müssen, und manch Märchen über sie ist bis heute im Umlauf. So hörte ich gerade neulich einen Westler steif und fest behaupten, man habe bei der Reichsbahn bis zuletzt mit Reichsmark zahlen können, allerdings nur mit Scheinen aus der Kaiserzeit. Schön wäre es ja gewesen, ich habe zu Hause nämlich neben ein paar Altmünzen drei von diesen großen braunen Tausendern und zwei blaue Hunderter. Dafür hätte ich zu DDR-Zeiten vierzigtausend Kilometer fahren können! „Vierzigtausend Kilometer mit der Reichsbahn“, das wäre eigentlich ein toller Titel für ein Abenteuerbuch. Wenn es denn gestimmt hätte mit der Reichsmark.
Hartnäckig wird in Sammelwerken wie Reichsbahn hinter rotem Stacheldraht auch die Behauptung verbreitet, man habe in der DDR für Berlin-Reisen stets ein polizeiliches Führungszeugnis gebraucht, das obendrein Groß- und Mittelbauern sowie Kleingewerbetreibenden grundsätzlich verweigert worden sei. Na gut, es stimmt: Die Regierung der DDR hat irgendwann im Jahre 1953 dergleichen beschlossen, aber mit dem Neuen Kurs wurde diese Regelung natürlich sofort und ersatzlos gestrichen. Das muss man doch endlich mal zur Kenntnis nehmen!
Außerdem wurde damals etwas geradezu Revolutionierendes eingeführt: Wer einen Zug bestieg, mit gültiger Fahrkarte natürlich, war fortan nicht einfach ein Fahrgast, er wurde Glied einer großen Gemeinschaft, der sogenannten Fahrgemeinschaft, und hatte teil am Leben seiner Mitreisenden. Auch durfte er sich mit Namen, Adresse, Reisezweck und so weiter beim ehrenamtlichen Wagenleiter ins Fahrtenbuch eintragen. Diese Wagenleiter waren Teil der gesellschaftlich aktiven Kräfte, intern kurz GAKse genannt, und unterstützten, wie es im Reisegesetz hieß, „die Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn bei der Wahrung von Ordnung und Sicherheit“: Sie halfen beim Ein- und Aussteigen, erläuterten die Vorzüge unseres Verkehrswesens, besonders bei Verspätungen, und hielten jederzeit die Augen offen. Verdächtig waren zum Beispiel bis zum August 1961 Berlin-Reisende mit sehr viel Gepäck oder gänzlich ohne Gepäck, verdächtig waren des weiteren Berlin-Reisende, die hinter vorgehaltener Hand auf Walter Ulbricht schimpften, solche, die ihn lauthals lobten und ganz besonders jene, die ihn auf höchst zweideutige Weise lobten: „Also ich finde den Spitzbart prima, der Spitzbart ist okay!“
Ja, Walter Ulbricht: Er war es, der das alles und noch manch anderes angeregt und durchgesetzt hat, er war der große Freund und Förderer des Deutschen Reichsbahnwesens! Auch die Zehn Gebote des sozialistischen Reisenden, die einst in allen Wagen hingen, stammten von ihm: Der sozialistische Reisende liebt sein Vaterland, die Deutsche Demokratische Republik. Ist stets bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der Heimat. Hält seinen Körper sauber und gesund. Befolgt die Vorschriften der Reichsbahndirektion … Es musste ja alles seine Ordnung haben. Man durfte zum Beispiel keine Fahrräder in die Zugtoilette stellen, es war verboten, Klopapier aus dem Fenster zu werfen oder sich in den Becken dort die Haare zu waschen. Reisende ab dem 16. Lebensjahr durften nicht zu zweit auf die Toilette gehen und dergleichen. Aber zu dritt war’s nicht verboten, und das wurde, wie es scheint, weidlich ausgenutzt: „Mendy, du warst wunderfoll Dein Meik und Nico“, dazu eine primitive, doch durchaus verständliche Zeichnung – besonders in Fernzügen war so etwas immer wieder zu entdecken. In mancher Hinsicht war das Volk eben höchst erfinderisch.
Noch etwas geht auf Walter Ulbricht zurück: der Stationssport, ein Verwandter des Pausensports. Auf größeren Stationen wurde Halt gemacht, und dann brachte man die eingeschlafenen Glieder auf dem Bahnsteig in Schwung. Er selbst war ja auch darin Vorbild, schaffte noch mit 70 zehn Klimmzüge. Oder waren es Kniebeugen? Oder habe ich ihn jetzt mit Honecker verwechselt? Unter dem ging’s ja immer mehr bergab. Überall so ein liberales Getue, statt „Alles raus jetzt“ hieß es nun: „Hat jemand vielleicht, vielleicht Lust auf Stationssport?“ Natürlich hatte niemand Lust, und bald wurde nicht einmal mehr gefragt. Bloß die langen Aufenthalte, die blieben.
Zuletzt ein paar Worte zu einem Fall, der von gewissen Kreisen immer wieder erst aufgebauscht und dann ausgeschlachtet worden ist: dem Fall des Rentners Fridolin Peesenport. Es hieß ja aus gutem Grunde: Rentner reisen in der Wochenmitte. Dieser Peesenport aber, so wird kolportiert, soll an einem Sonntag gereist und zur Strafe aus dem fahrenden Zug geworfen worden sein. Doch dazu haben sich Staat und Partei seinerzeit eindeutig geäußert: „ADN ist bevollmächtigt zu erklären: 1. Einen Rentner namens Fridolin Peesenport hat es in der DDR nicht gegeben.“ Völlig klar: Wer heißt denn schon Peesenport? Und dazu noch Fridolin? Solche Namen gibt es doch nur in Witzblättern. „2. war besagter Peesenport bereits tot, als er in den Zug stieg“, und „3. war er an allem selber schuld.“ Das nimmt den gegnerischen Behauptungen vollends den Wind aus den Segeln; eine absolut wasserdichte Argumentation, wie man heute zu sagen pflegt.
Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich will keinesfalls zurück in diese Reichsbahn-Zeiten. Aber man muss doch auch mal sagen, dass es damals auf Reisen eine Geborgenheit gab und ein Miteinander, wie wir sie in der kalten kapitalistischen Glitzerwelt nie und nimmermehr erleben können. Und diese Erinnerung lassen wir uns nicht nehmen.
Schlagwörter: Deutsche Reichsbahn, Eisenbahn, Erhard Weinholz