von Konrad Lindner
Es war kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe, der Dichter und Naturforscher in Weimar, der 1790 den Begriff der „Metamorphose“ zu einem Grund- und Leitbegriff der Morphologie erhob, um die Individualentwicklung der Pflanzen vom Keimling bis zum blühenden und fruchtenden Organismus zu beschreiben. Noch immer aktuell, wenn wir an den Aufbauprozess von einer Eichel, die wenige Gramm wiegt, zu einer ausgewachsenen Eiche denken, die viele Tonnen auf die Waage bringt. Dieser hoch komplexe Lebensvorgang reduziert sich nicht auf eine mechanische Bewegung, sondern beinhaltet einen komplexen Ablauf höchster Ordnung und voller nicht vorhersehbarer Möglichkeitsfelder, was sowohl Goethe als auch die Denker des Deutschen Idealismus wie Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und besonders Georg Wilhelm Friedrich Hegel als geistige Herausforderung begriffen. Um 1800 war die Morphologie der Pflanzen von Goethe ein Testfall der Dialektik. Letztere ist die besondere Disziplin, in der aus der Perspektive der Logik und der Philosophie nach den Typen der Bewegung und Entwicklung sowohl im Seienden überhaupt als auch im menschlichen Dasein gefragt wird.
Im Verlauf seiner Studien erst zum Bürgeraufstand in Ostdeutschland und dann zur Dynamik des freiheitlich verfassten politischen Systems erhob der Sozialwissenschaftler Rolf Reißig eben einen solchen Begriff zum Hebel der Forschung, der sehr viel mit dem Denken zur Bewegung und Entwicklung von gesellschaftlichen Ordnungen zu tun hat. Dieser für die Bildung von Sozialtheorie gewichtige Begriff lautet „Transformation“. Der Terminus, der für „verändern“, „umwandeln“ oder „umbauen“ steht, besitzt eine eigene sozialwissenschaftliche Erfolgsgeschichte. Im Verlauf der Bücher, die Reißig in seiner zweiten Lebenshälfte schrieb, ist nun aber mit der Rede von „Transformation“ nicht eine bloße Vokabel im Spiel. Vielmehr ist im Detail zu lernen, dass die friedliche Revolution heraus aus der staatssozialistischen Ordnung der DDR kein bloßer Crash, sondern eine vielgestaltige soziale Bewegung heraus aus einem monistischen System gesellschaftlichen Lebens zu einer pluralistischen Ordnung war.
Der Autor geht bei seinem Ausloten der Inhalte des Transformationsbegriffs aber noch einen Schritt weiter. Ihm liegt an dem Nachweis, dass gerade freiheitlich-demokratische Ordnungen über ein Institutionennetz verfügen, das nicht statisch ist, sondern in dem sich sowohl allmähliche als auch plötzliche, sowohl evolutionäre als auch revolutionäre Wandlungen vollziehen. Bezogen auf die Länder der Europäischen Union wird mit einem derartigen Ansatz erkennbar, dass die postkommunistische Situation gerade nicht als „Ende der Geschichte“ oder als der letzter Punkt menschlicher Emanzipation misszuverstehen ist. Der Begriff der „Transformation“ leitet hier und heute dazu an, den enormen Neuerungsbedarf in den Blick zu nehmen, dem im politischen Handeln sowohl der Eliten als auch der Bevölkerung entsprochen werden muss, wenn die Entwicklung der westlichen Demokratien angesichts der sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen und geistigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts so gelingen soll, dass sich starke Zivilgesellschaften ausformen und dass auf diese Weise Zusammenbrüche vermieden werden, wie sie das kommunistische Herrschaftssystem 1989/1990 ereilte.
Eine Gesellschaft, die dynamisch verfasst ist, die ist für verschiedene Zukünfte offen, und eine offene Gesellschaft bleibt nicht sich selber gleich, sondern bringt wie eine Pflanze Stadien oder Entwicklungsformen hervor, von denen gilt, wie Hegel 1806 in der „Phänomenologie des Geistes“ schrieb, dass man zu ihrem Verständnis das Prinzip der Negativität benötigt. Der Philosoph argumentierte: „Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig wie das andere ist; und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.“
Dieser Gedanke einer Logik der Entwicklung Hegels, wonach ohne die Negation bisheriger Formen weder im Pflanzenreich noch in der Gesellschaft eine Entwicklung vonstattengeht, hört sich in der späteren Version von Karl Marx im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes von „Das Kapital“ von 1873 so an, dass „jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite“ aufzufassen sei.
Wird die Zeitlichkeit bestimmter Formen betont, heißt das aber, dass auf eine Form verschiedene andere Formen folgen können. Zukunft kommt als Feld vieler Möglichkeiten daher. Die folgende Form ist nicht vorherbestimmt. Bei Marx wie bei Hegel, aber auch bei Goethe ist zu lernen, dass in Abläufen der Transformation die Folge der Formen bei aller Bestimmtheit immer auch offen ist. Es ist nie völlig ausgemacht, was für eine Form entsteht. Das Prinzip der Negativität hat zur Konsequenz, dass beim Blick in die Zukunft eines Systems das scheinbar Unmögliche nicht als Möglichkeit ausgeschlossen werden darf.
Wer – wie Reißig – auf das Verb „transformieren“ setzt, um die Daseinsweise der Subjekte komplexer Gesellschaften zu beschreiben und zu erforschen, begibt sich bewusst oder unbewusst in eine Geistestradition, die von Hegel in seinen beiden Büchern zur „Wissenschaft der Logik“ von 1812 und 1816 begründet wurde. Der Geniestreich des Denkers aus Stuttgart bei der logischen Analyse komplexer Systeme ist also noch längst nicht verklungen. Die Logik Hegels ist aber erst noch in die Sprache der Gegenwart zu übersetzen.
Heutige Philosophen und Logiker, die sich – wie Pirmin Stekeler in Leipzig – an die Arbeit einer zeitgemäßen Kommentierung der „Wissenschaft der Logik“ begeben haben, tragen dazu bei, das gesellschaftliche Handeln autonomer und freier Bürger inmitten der Möglichkeitsfelder der heutigen Gesellschaften in seiner ethischen Konstitution und sozialen Verantwortlichkeit zu erkunden. Dazu gehört die Einsicht, dass wir zu lernen haben, auf das Unbekannte hin zu handeln, das die gegenwärtigen Lebensformen nicht identisch reproduziert.
Umso mehr darf man dankbar zur Kenntnis nehmen: Die Rede von Reißig über „große Transformation“ ist mehr als nur eine Absage an den nicht vergessenen Gleichschritt des Parteikommunismus in den Farben der DDR. Die Rede von der großen Transformation ist vor allem ein geistiger Ansporn, es im politischen wie privaten Raum nicht beim bequemen: Weiter so! zu belassen. Als freie Menschen leben wir in einer komplexen Gesellschaft nicht in einem Einerlei, sondern – wie Stekeler in seiner Studie „Sinn“ schreibt – in einem „Reich von Möglichkeiten“.
Kurzum: Reißig und die Mitautoren des Sammelbandes „Transformation“ – siehe unten –finden als Analytiker der Transformation für den jetzigen Augenblick sozialer Dynamik zu Beginn des 21. Jahrhunderts auffallend stimmige Worte, um den Menschen als modales Wesen zu entdecken und um die Frauen und Männer hierzulande zu bestärken und zu feiern, die im Nahfeld ihres Wirkens Neues wagen, um zum Gelingen einer solidarischen Gesellschaft beizutragen.
Die Rede über große Transformation speist sich aber auch und vor allem aus der Krise einer Verhaltens- und Wirtschaftsweise, die allein auf Herrschaft über die Natur setzt und nicht auf Einklang mit der Natur. Eine Abkehr von diesem gewohnten, aber prekären neuzeitlichen Typus des Handelns erfordert nicht nur kleine Schritte des Wandels, sondern bedarf einer großen Transformation, die allerdings nicht als großer Knall erfolgt, sondern als Tun der Vielen und, wie Reißig in seinem Aufsatz „Gesellschaftstransformation heute“ schreibt, in Gestalt von Umbrüchen, „bei denen sich das Prinzip der Naturaneignung und die Produktions- und Lebensweise grundlegend wandeln.“
Wer auf diese Weise von „Transformation“ spricht, der stellt unter Beweis, dass es ihm darauf ankommt, im Hier und Heute gesellschaftliche Entwicklung zu denken und zu befördern. Die im Sammelband „Transformation“ vereinten Autoren beteiligen sich so freimütig wie originell an einem Suchprozess in Zeiten des Umbruchs, der möglichst viele geistige Akteure erfordert, der aber auch von den Daseinsfragen der Gegenwart her den Dialog mit altvorderen Denkern wie Goethe und Hegel und Marx neu beleben könnte.
Dr. habil. Konrad Lindner ist Philosoph und Wissenschaftsjournalist; er lebt in Leipzig.
Literatur:
Michael Brie / Rolf Reißig / Michael Thomas (Herausgeber): Transformation, Suchprozesse in Zeiten des Umbruchs. LIT Verlag Berlin, Wien, London, 2016, 354 Seiten.
Pirmin Stekeler-Weithofer: Sinn, Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin / Boston 2011. 211 Seiten.
Schlagwörter: Konrad Lindner, Pirmin Stekeler-Weithofer, Revolution, Rolf Reißig, Transformationm