von Frank-Rainer Schurich
„Wir müssen dort im Haus anfangen“, sagt Kommissar Kurt Wallander im Kriminalroman „Mord im Herbst“ von Henning Mankell. „Es muss Grundbucheintragungen geben. Alle Menschen haben eine Geschichte. Und Häuser genauso.“ Das Haus Stubenrauchstraße 47 in Berlin-Friedenau ist ein Haus wie jedes andere. Man sieht ihm nicht an, was drinnen vor sich ging oder geht. Es hat aber eine bewegte Geschichte.
Im schon für Das Blättchen besprochenen Buch von Regina Stürickow mit dem Titel „Mörderische Metropole Berlin. Authentische Fälle“ lesen wir, dass der Tischlermeister Paul Basche (bei Stürickow Paul Buchwald) am 29. Dezember 1927, aus dem Fenster seiner Werkstatt schauend, einem historischen Ereignis beiwohnte. Vor der Haustür standen in Reih und Glied einige Dutzend gutaussehende Männer. Seine Frau Margarete hatte sich schon informiert. Es waren alles Sänger, die bei Harry Frommermann vorsingen wollten, der in der Mansarde wohnte. Die Schlange ging tatsächlich vom fünften Stock bis auf die Straße. Harry Frommermann hatte im Berliner Lokal-Anzeiger eine Annonce aufgegeben, denn er suchte Berufssänger für ein Vokalensemble. Am 16. Januar 1928 fand in Frommermanns Mansarde die erste Probe statt – nicht nur zur Freude der restlichen Mieter. Es folgte alsbald der erste öffentliche Auftritt – und eine Weltkarriere unter dem Namen „Comedian Harmonists“.
Die Geschäfte von Tischlermeister Paul Basche liefen immer schlechter, es kam zu ehelichen Streitigkeiten. Am 21. März 1931 erschlug er im Affekt seine Frau mit einem Hammer. Die 2. Reservemordkommission unter der Leitung von Kurt Draeger konnte den von Basche vorgetäuschten Raubmord und damit den Fall schnell lösen. Zu dieser Zeit hatte der berühmte Berliner Kommissar Ernst Gennat (1880-1939), der Chef Draegers, die Mordermittlungen weltweit revolutioniert. Das von ihm entwickelte „Mordauto“, ein fahrendes Labor und Büro der Mordkommission, war die Sensation der Internationalen Polizeiausstellung 1926 in Berlin.
83 Jahre später machte sich ein weiterer „Schüler“ Gennats auf den Weg, um die Geschichte der „Comedian Harmonists“ zu erforschen. Diplomkriminalist Jan Grübler, Dozent für Kriminalistik an der Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg in Oranienburg, hat ein faszinierendes Buch vorgelegt, das uns behutsam und sachkundig durch den Zauber und das Elend der Zeit führt.
Natürlich, Harry Frommermann spielt in diesem Stück die Hauptrolle, aber auch die Lebenswege der anderen Familienmitglieder, Verwandten, Freunde und Mitsänger werden nachgezeichnet. Alexander Frommermann, der Vater, ein jüdischer Russe, lebte in Brody in Galizien/Ukraine. Ende des 19. Jahrhunderts entstand dort die Redewendung „Verfallen wie in Brody“. Die Armut und die Verwahrlosung der Bevölkerung boten insgesamt ein düsteres Bild, außerdem war die Stadt vielfach ein Zufluchtsort für Entwurzelte aus dem Osten geworden. Der Vater arbeitete dann als Kantor in Wien und Sänger in Leipzig. Gleich nach Umsiedlung gründete Alexander Frommermann 1894 in der Auguststraße 46 in der kaiserlichen Hauptstadt die „Erste internationale Cantoren-Schule zu Berlin“. Am 12. Oktober 1906 wurde der musikalisch so glänzend vorbelastete Max Harry Frommermann in Berlin geboren.
Seine „Comedian Harmonists“, deren kometenhafter Aufstieg in der Stubenrauchstraße 47 begann, prägten den damaligen Musikstil weltweit. Die Nationalsozialisten erzwangen ein jähes und sehr frühzeitiges Ende des Erfolges; der Antisemitismus war zur Staatsdoktrin geworden, und zahllose jüdische Bürger wurden ins Exil getrieben. Während ihm die Flucht gelang, wurden andere Familienmitglieder in den faschistischen Vernichtungslagern ermordet.
Jan Grübler zeichnet den weiteren Lebensweg des jüdischen Künstlers akribisch nach. Einst ein weltweit gefeierter Bühnenstar, war er als Harry M. Frohman Dolmetscher in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, Kontrolloffizier beim RIAS in Berlin, Makler in Zürich, künstlerischer Leiter beim Radio Audizione Italiane, Handelsvertreter in Lausanne, Fabrikarbeiter in New York, Taxifahrer und Buchhalter. Der Autor schreibt sehr treffend, dass Frommermanns Leben viele ungewöhnliche Facetten und ungewollte Zäsuren besaß – ein vom Schicksal Getriebener. „Gleichwohl ist es exemplarisch für die Zerrissenheit zahlreicher jüdischer Lebensgeschichten in einer Zeit von Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung.“ Das zeige sich auch in der weitgehend unbekannten Geschichte der Familie des Musikers, die in dem Buch detailgetreu nachgezeichnet wird.
Dieses Standardwerk zu den „Comedian Harmonists“ bringt überwiegend neue Fakten, zum größten Teil vom Autor recherchiert, auch wenn er im Wallanderschen Sinne keine Grundbucheintragungen studiert hat. Zahlreiche Abbildungen geben der Geschichte der Familie Frommermann ein ausdrucksstarkes Gesicht. Beigegeben sind ein Stammbaum der Familie und ein ausführliches Quellenverzeichnis. Wer von den knapp 400 Fußnoten irritiert ist, sollte bedenken, dass Fußnoten ohnehin einen Teppich darstellen, auf dem auch eine populärwissenschaftliche Abhandlung einher schreitet, und dass ein Diplomkriminalist das Buch geschrieben hat, der bei seiner eigentlichen Praxis zum Beispiel in einem Schlussbericht an den Staatsanwalt, auch alle Fakten zum Verbrechen beweisen muss.
Harry M. Frohman starb am 29. Oktober 1975 in Bremen. Zurückgezogen hatte er Anfang der 1960er Jahre bei einer Bekannten gewohnt. Aber misstrauisch, lesen wir, ist er immer geblieben. Er befürchtete, dass das, was in diesem Land 1933 passierte, wiederkommen würde. Darum hatte er unter seinem Bett immer einen gepackten Koffer zu liegen – 14 Jahre lang, damit er jederzeit aus diesem Deutschland fliehen konnte. Wie aktuell!
Am Haus in der Stubenrauchstraße 47 wurde übrigens am 7. September 1990 eine Tafel angebracht, auf der wir lesen: „In einer Mansarde dieses Hauses / wurden zur Jahreswende 1927/28 auf Initiative / von Harry Frommermann mit / Robert Biberti, Erwin Bootz, Erich Collin, / Roman Cycowski und ‚Ari‘ Leschnikoff die / „Comedian Harmonists“ / gegründet. Das weltberühmte Vokalensemble / wurde 1935 durch die erzwungene Emigration der / drei jüdischen Mitglieder getrennt.“
Es ist zu hoffen, dass der Leserkreis nicht nur auf ein paar musikhistorisch Interessierte und einige Schellackplattensammler beschränkt bleibt.
Jan Grübler: Kantoren, Künstler, Kontinente. Jüdische Schicksale. Die Familie von Harry Frommermann, Gründer der „Comedian Harmonists“. Verlag Dr. Köster, Berlin 2014, 92 Seiten, 14,80 Euro.
Schlagwörter: Comedian Harmonists, Frank-Rainer Schurich, Jan Grübler