20. Jahrgang | Nummer 11 | 22. Mai 2017

Im Felde ungeschlagen … – die Lebensbilanz des Werner Großmann

von Alfons Markuske

Dass einer wie Werner Großmann, der 1986 zum Nachfolger von Markus Wolf an der Spitze der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), des Auslandsnachrichtendienstes der DDR, avancierte und den Rang eines Generalobersts erreichte, ein „Überzeugungstäter“ war, durfte erwartet werden. So ist der Titel dieses Interview-Bandes unoriginell, doch zumindest insofern interessant, als Großmann einen anderen ablehnte, der dem Autor und dem Verlag, die wohl auch das Marketing im Auge hatten, vorschwebte: „Man wird nicht als Spion geboren“. „Spion“ – aus Großmanns Sicht ein Begriff mit Hautgout, halbseiden, schmuddelig, unehrenhaft. Spione hatte die Gegenseite, man selbst war Aufklärer und rekrutierte, respektive entsandte „Kundschafter des Friedens“.
Zur Untermauerung des letzteren Anspruchs wird gern – allerdings nicht von Großmann – die Geschichte vorgetragen, wie der HVA-Agent Rainer Rupp im Jahre 1983 den dritten Weltkrieg verhinderte. Da war der Kalte Krieg mal wieder auf einem Höhepunkt: Es kam zu mehreren schweren Zwischenfällen, die das Risiko einer militärischen Ost-West-Konfrontation in erheblichem Maße erhöhten – wie der Abschuss eines koreanischen Passagierflugzeuges durch einen sowjetischen Abfangjäger oder die amerikanische Intervention auf der Karibikinsel Grenada. Überdies hatte US-Präsident Ronald Reagan sein SDI-Programm zur Militarisierung des Weltraums verkündet, und die NATO bereitete die Stationierung amerikanischer Pershing-II-Raketen in Westeuropa vor, die im Falle eines Überraschungsangriffs auf die Sowjetunion deren Vorwarnzeit auf wenige Minuten verkürzt hätten. Just in dieser Lage plante der Nordatlantikpakt die Stabsrahmenübung „Able Archer 83“, die einen Atomkrieg mit Moskau simulieren sollte und dort Befürchtungen im Hinblick auf einen bevorstehenden Überfall und Vorkehrungen, diesem gegebenenfalls zuvorzukommen, ausgelöst haben soll. Doch „Topas“, so der Code-Name für Rupp, lieferte aus dem Herzen der Finsternis, dem NATO-Hauptquartier in Brüssel, den entscheidenden Hinweis auf den tatsächlichen Manövercharakter von „Able Archer“. Viele Jahre später fand Mark Kramer von der Harvard University allerdings keine Hinweise auf eine erhöhte Nervosität der Moskauer Führung, als er die Protokolle der Sitzungen des Politbüros der KPdSU von 1983 und Anfang 1984 analysierte.
Aber auch ohne Kramers Untersuchung gab und gibt es Gründe für Skepsis. So merkte etwa Günther Weiße, früherer Oberstleutnant der Bundeswehr im Bereich Fernmeldeaufklärung und Autor von „NATO-Intelligence. Das militärische Nachrichtenwesen im Supreme Headquarters Allied Powqers Europe (Shape) 1985-1989“, an: „Ob R. (Rupp – A.M.) durch seinen Verrat mitgeholfen haben könnte, einen Dritten Weltkrieg verhindert zu haben, kann nicht abschließend bewertet werden, da die Nachrichtendienste des damaligen Ostblocks, allen voran das KGB, die GRU und die HVA des MfS sowie der BA der NVA über eine Vielzahl weiterer unterschiedlicher teilweise qualitativ hochwertiger Quellen verfügt haben dürfte.“
Bei Großmann, der sich zur zugespitzten sicherheitspolitischen Paranoia Moskaus Anfang der 1980er Jahre ausführlich äußert, findet sich bezüglich der Übungspraxis des Nordatlantikpaktes – ohne Bezugnahme auf Rupp – lediglich der beiläufige Hinweis: „Wir wussten inzwischen, dass diese NATO-Manöver nicht genutzt werden sollten, um die sozialistischen Staaten anzugreifen.“
Zu Rupp verweist Großmann vielmehr auf einen ganz anderen, späteren Vorgang: „1987 oder 1988 lieferte Rainer Rupp eine ganz wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Information seiner Kundschaftertätigkeit überhaupt. Es handelte sich um die Erkenntnisse der NATO über Ausrüstung, Einsatzbereitschaft und Gruppierung der Armeen des Warschauer Vertrages. Ich bin mit lautem Hurra sofort zu Mielke gelaufen. Denn wenn die Gegenseite unsere Stärke und Optionen kannte, wusste sie folglich auch, dass wir weder eine Aggression oder einen Angriff planten noch dazu in der Lage waren.“ Großmann bezog sich damit auf das von Rupp weitergegebene „Dokument MC 161“, das in jährlichem Turnus erstellt wurde und mit der höchsten Geheimhaltungsstufe „Cosmic Top Secret“ versehen war.
Ansonsten aber zu diesem Top-Mann nichts Neues, auch nicht zu anderen Spitzenquellen der HVA, die noch während des Kalten Krieges für Schlagzeilen sorgten (wie Ursel Lorentzen und Günter Guillaume) oder erst danach (wie Gabriele Gast und Klaus Kuron). Großmann nennt sie alle und einige mehr und stützt damit sein Fazit, dass die HVA einer „der effektivsten und erfolgreichsten Auslandsnachrichtendienste der Welt“ gewesen sei. Ohne diesem Resümee hier partout widersprechen zu wollen, klingt dies angesichts des Endes der DDR dann aber doch ein wenig wie die bekannte Tröstung „im Felde ungeschlagen…“.

Wird fortgesetzt.