von Werner Krumbein
Genosse, wo bist du heute? Diese Frage stellte sich nach über 20 Jahren eine noch junge finnische Frau, die inzwischen als Filmemacherin in Berlin lebt. Sie fragte sich, was aus denen geworden ist, wo und wie sie jetzt leben, mit denen sie 1988-1989 im Internationalen Lehrgang der Jugendhochschule „Wilhelm Pieck“ in Bogensee bei Berlin Marxismus-Leninismus studierte. Vier Monate nach ihrem Studienabschluss erlebten Kirsi Marie Liimatainen und ihre Ex-Kommilitonen den Zusammenbruch dessen, was ihnen ein Jahr lang als das Paradies der Werktätigen gepriesen wurde und was ihre Zukunft in den Heimatländern nachhaltig veränderte. Ich bekam 2014 Kenntnis von Kirsis Arbeit. Ein Freund fragte mich, ob ich ein Filmprojekt mit einer Sammelspende, neudeutsch Crowdfunding, unterstützen könnte, das die oben genannte Geschichte filmisch dokumentieren möchte. Das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen hatte zuvor eine Beteiligung abgelehnt, weil Kirsi nicht auf den Satz verzichten wollte: „Geschichte wird von den Siegern gemacht“.
Ich überlegte nicht lange und beteiligte mich mit der Aussicht auf eine eigene DVD vom fertigen Film. Es war nicht die erste Bitte dieser Art, und auf manche Ergebnisse warte ich bis heute vergebens. Aber hier wurden wir von der Produzentin Kirsi persönlich auf dem Laufenden gehalten und endlich zum 11. August 2016 zur Filmpremiere ins Berliner Kino „Babylon“ eingeladen. Nach einer weiteren Wartezeit von sechs Monaten, den Regularien des Kinomarktes geschuldet, bekamen wir Unterstützer unsere DVDs. Der Film läuft seitdem als Nischenprodukt erfolgreich in Programmkinos und wird auch 2017 in vielen Städten gezeigt.
Wer selbst versucht hat, alte Freunde allein in Deutschland zu finden, dabei Telefon, Google, Facebook und so weiter strapaziert hat, kann ermessen, wie schwer es war, ehemalige Genossen und Genossinnen zu finden, die oft unter Decknamen in der DDR waren, deren Organisationen nicht mehr existieren und die ihrerseits keinen Anlaufpunkt für Nachfragen haben. Erschwerend kam hinzu, dass nicht wenige, die gefunden wurden, aus unterschiedlichen Gründen nicht in einem Film über ihre kommunistische Jugend auftauchen wollten. Der fertige Film erzählt uns das Schicksal von fünf, mit der Autorin Kirsi eigentlich sechs Absolventen des 1989er Jahrgangs.
Wir lernen zuerst Nidia aus Bolivien kennen, die sich damals Lucia nennen musste. Sie hat indigene Wurzeln und konnte nicht verstehen, wieso der Kampf für Freiheit und Gleichheit ihres Volkes zwingend mit der Abkehr vom Glauben an Gott und die Gottheiten ihrer Vorfahren verbunden sein sollte. Auch mit einer Diktatur des Proletariats hatte sie Probleme. Sie wurde Heilerin, hoffte wie ihr Volk auf eine neue Politik mit einem indigenen Präsidenten Evo Morales und ist nun wieder bei den „grass roots“. Die Bewahrung ihrer Natur und ihrer Kultur gibt sie nicht auf und muss sich von Morales anhören, dass Umweltschutz der neue Kolonialismus sei, eine Intrige der USA. Bewundernswert ihre Menschlichkeit und ihr Optimismus, aus denen sie trotz vieler Enttäuschungen immer wieder Kraft schöpft, um die Welt auf sanfte Weise zu verändern. Gemeinsam mit Kirsi reisen sie nach Chile. Sie wollen Esteban treffen und finden ihn als Marcelino in Santiago de Chile. Er ist noch aktiv in der Kommunistischen Partei, klebt Plakate zum 1. Mai und demonstriert mit den linken Studenten. Er ist dankbar für die Möglichkeit, damals in der DDR die marxistische Philosophie studieren zu können, hält aber auch nichts mehr von einer Diktatur des Proletariats.
Immer wieder kommen alle ehemaligen Jugendhochschüler darauf zurück, dass während ihres Studiums Theorie im Unterricht und Praxis in der alltäglichen DDR auseinanderklafften. Von außen betrachtet war die DDR damals das Beste, was es in der sozialistischen Welt gab, und mit entsprechend hohen Erwartungen kamen sie her und stellten fest: Es ist nicht das Paradies der Arbeiter, die Leute müssen Schlange stehen für normale Produkte, haben Angst, laut Kritik zu äußern und hoffen auf eine Perestroika wie in der Sowjetunion. Die Studenten verstanden nicht, dass sie Kandidaten für die Kommunalwahlen der DDR 1989 wählen sollten, mit denen sie nichts verband, und dass eine Weigerung als Kritik an der sozialistischen Gesellschaft der DDR gewertet wurde.
Ähnlich denken Nabil und Ghazwan aus dem Libanon, die heftig mit ihren Freunden und der Familie über die Zukunft ihres zerstörten und zerstrittenen Landes diskutieren. Sie haben sich von der Partei distanziert, weil die im Bürgerkrieg zu den Waffen gegriffen hat und damit alles nur schlimmer wurde. Am Ende leiden die Menschen, denen ein besseres Leben versprochen wurde. Heute sprechen die Menschen, die Konflikte haben, nicht mehr miteinander, sie lassen gleich die Waffen sprechen. Fundamentalisten haben das Sagen und jede religiöse Gemeinschaft denkt nur an sich. Ghazwans Vater sieht die Lösung verbittert in einem totalen Neuanfang nach der Auslöschung der Menschheit in einem Atomkrieg. Trotzdem versuchen beide Familien unauffällig bedürftigen Menschen zu helfen und setzen auf die Bildung des Volkes.
Eine ganz andere Situation findet die Autorin in Südafrika vor. Sie sucht dort nach ihrem damaligen Genossen Duma. Ein letztes Lebenszeichen hatte sie aus Sambia bekommen, danach verlor sich seine Spur. Auch nach dem Sieg des ANC änderte sich daran nichts. Im Hauptquartier des ANC versucht sie seine Identität zu klären. In ganz kleinen Schritten kommt sie seinem Schicksal näher. Duma, der eigentlich Mateo heißt, gehörte zum militärischen Flügel des ANC „Umkhonto we sizwe“ (Der Speer der Nation) und war im Kampf schwer verletzt worden. Für ihn und andere war der Aufenthalt an der Jugendhochschule mehr Reha als theoretische Ausbildung. Deshalb hatten sie eine ganz andere Sicht auf die DDR und konnten die Zweifel ihrer Mitstudenten am „realen Sozialismus“ nicht nachvollziehen. Die Ernüchterung kam für sie später, als der ANC Regierungspartei wurde und die Ideale von Freiheit und Gleichheit den Intrigen um Posten und Vorteile geopfert wurden. Für Kirsi gibt es kein Wiedersehen. Mateo, alias Duma, war inzwischen gestorben, seine Witwe führt die Autorin zu seinem Grab.
Ich habe mir den Film inzwischen mehrfach angesehen, meist in Kapiteln. Es ist wie bei einem guten Buch, das man ab und an zur Seite legt, um seinen eigenen Gedanken Raum zu geben. So unterschiedlich die Lebensumstände heute sind, so ähnlich sind die Sorgen, die wir uns machen. Ich habe die Autorin dazu befragt. Kirsi Marie Liimatainen schreibt mir: „Die wichtigsten Fragestellungen des Films liegen aber in der Zukunft… Was sind eigentlich unserer Ideale? Wie wollen wir leben? Überall in der Welt habe ich Menschen getroffen, mit Leuten von der Straße geredet. Sie alle sind der Meinung, dass es so nicht weitergehen kann. All diese Kriege, das Ungleichgewicht in der Gesellschaft… Aber diese Menschen finden selten eine Partei, in der sie heute aktiv werden könnten. Sie haben innerparteiliche Machtspiele und Korruption satt. Sie möchten die Welt verändern, aber wie? Genau in diesen Menschen steckt die Hoffnung.“
Die durchgehend positive Resonanz des Films bei allen ehemaligen Studenten und anderen, die ihn bisher gehen haben, weckt das Interesse an mehr Publizität. Dazu Kirsi: „Ich habe auch Anfragen von Leuten aus Australien, England, Uruguay, Norwegen, Dänemark, Griechenland erhalten. In Dresden begegnete ich jungen Emigranten aus Syrien und Libanon – sie alle möchten den Film in ihren Ländern zeigen. Momentan habe ich den Film nur auf Deutsch und Englisch übersetzen können. Vielleicht wird es finanziell noch möglich, ihn auf Arabisch und Spanisch übersetzen zu lassen.“ Wie kommt so ein Film zustande? Darauf die Autorin: „Zum ersten Mal habe ich an meine damaligen Kommilitonen gedacht, wie sie politisch agieren, wie sich ihre Lebensumstände verändern, als die Wende kam. In Finnland, in den linken Kreisen, war alles wie gelähmt/erstarrt. Viele meine Kindheits- und Jugendfreunde haben sich von allem, was ein bisschen nach links roch, komplett abgewendet. […] Ich erhielt 2006 ein Recherche-Stipendium für das Projekt von der DEFA-Stiftung. Es dauerte aber noch sehr lang, bevor wir die Unterstützung von den staatlichen Filmförderern erhielten, das Budget wurde erst 2011 aufgestellt. Ein großes Hindernis war, dass sich kein Sender in Deutschland für das Projekt interessierte. Es war nur möglich, weil vormalige Studenten der Filmhochschule auf Freundschaftsbasis daran mitarbeiteten. 2014 wurde zum Crowdfunding aufgerufen, weil wir feststellten, dass alle Archivfilme, Musiklizenzen und Übersetzungen so teuer waren, dass wir es uns nicht leisten konnten. Aber 2016 fanden letztendlich Premiere und Kinostart statt und ich habe es geschafft. Darauf bin ich stolz.“
Ich ziehe meinen imaginären Hut vor Kirsi.
Schlagwörter: DDR, DEFA-Stiftung, Jugendhochschule "Wilhelm Pieck", Kirsi Marie Liimatainen, Werner Krumbein